Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0771
DOI Heft:
Heft 8
DOI Artikel:Aldanov, Mark A.: Das Rätsel Pilsudski
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Karl Bertsch
DAS RÄTSEL PILSUDSKI
Von
M. ALDANOV
Die Periode der großen Taten schien für Polen abgeschlossen zu sein. Allein,
von ihr zu geringeren Taten überzugehen, war offenbar minder leicht.
Darin lag denn auch die Tragödie Pilsudskis. Der Enthusiasmus, den er in
seiner Heimat entfesselt hatte, war verebbt. Dasselbe hatten auch Clemenceau,
Lloyd George, Wilson erfahren müssen. Der Enthusiasmus war überhaupt bei
allen und für alles verebbt. In Polen währte die „holde Eintracht" nicht lange.
Der erste Landtag rechtfertigte Pilsudskis Hoffnungen nicht. Seine zahlreichen
Gegner — persönliche und politische — gingen zum Angriff vor. Dmowski
machte aus seinen Gefühlen für das Staatsoberhaupt kein Hehl. „Die Anhänger
Pilsudskis", schrieb er, „haben für ihren Führer die Reklametrommel geschlagen
und ihm byzantinische Hymnen gesungen . . ."
Im Jahre 1920 marschierten die polnischen Truppen unter dem Oberbefehl
Pilsudskis nach Kiew. Laut Urteil der polnischen Geschichtsforscher handelte es
sich hierbei um einen „Präventivkrieg". (Übrigens hat es in der Geschichte
niemals Angriffskriege gegeben und wird es auch nie geben: alle Kriege sind
Verteidigungskriege oder „Präventivkriege".) Selbstredend bezweckte der Prä-
ventivkrieg von 1920 nimmermehr den Sturz der Bolschewistenherrschaft in
Rußland. Wenn er darauf ausgegangen wäre, wäre Pilsudski nicht nach Kiew
marschiert und hätte die Kriegsaktionen schon früher begonnen, damals, als die
russische Freiwilligenarmee die Bolschewisten mit Erfolg bekämpfte. Das faktische
Ziel des Krieges von 1920 war natürlich: „Polen von Meer zu Meer" oder wenig-
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