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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 8
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Götz-Bergroth, Aja: Märchen und Schnäpse in Finnland
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0784

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man auf einem sehr gut eingerichteten Dampfer von Stettin direkt nach Helsing-
fors, oder man nimmt den außerordentlich reizvollen Weg über Stockholm. Das
Alkoholverbot, das vom Staat sehr streng dutchgeführt wird, hat den Finnen
sowohl neue Berufe wie teilweise einen neuen Organismus gegeben. Ich war
oft sterbenskrank, außerstande, Haarwasser und 95pronzentigen Sprit als Likör
zu betrachten, während Finnländer dieses Getränk mit Wohlbehagen tranken.
Das Klima hat aus dem Alkohol ein Bedürfnis gemacht, dieses Bedürfnis ist ver-
boten. Infolgedessen ist das Land voller Schmuggler, Spritkäufer und -Verkäufer
aller Arten. Wenn wir abends durch die Schären fuhren und in den dunklen
Augustnächten Lichter an den Ufern flackern sahen, erklärte man mir, dies sei das
Zeichen, daß dort Alkohol zu verkaufen ist. Ein anderes Mal sind wir mit Wagen
und Pferd an einem Bauernhaus vorbeigefahren, und es wurde von uns Zoll
verlangt, weil der Bauer für jede vorbeifahrende Fuhre Zoll verlangte, in der
Annahme, daß jeder Wagen Alkohol enthält. Bezahlt man nicht, spielt er den
Angeber, und man ist der gesetzlichen Strafe ausgeliefert. In Helsingfors passierte
es mir, daß ich abends in einem großen Restaurant ein Glas Tee bestellte.
„Schwach oder stark?" fragte der Kellner. „Ich trinke den Tee gern etwas stark",
antwortete ich, und bekam prompt Sprit. Ich erklärte dem Ober seinen Irrtum,
er antwortete, daß er mich falsch verstanden, ich hätte eben bei dem Wort
„stark" geblinzelt! Ich gebe zu, daß es selbst mir, als Außenstehendem, reizvoll
vorkam, zwei bis drei Gläser Kognak zu riskieren, es war einfach wunderbar,
etwas Verbotenes zu tun. Wurden die Tische eines Abends kontrolliert, so spielte
das Publikum ein gemeinschaftliches Spiel gegen Polizei und „Riecher", wie man
diese Herren nennt.
Wenn man sagen kann, daß das Volk primitiv lebt, so kann man um so mehr
feststellen, daß die „Herren" des Landes übermütig leben. Auf den Gütern wird
nicht gerechnet, man beobachtet, daß viele Möglichkeiten unausgenutzt bleiben.
Pferde und Kühe, Wagen und Boote, alles steht im Dienst der Gastfreundschaft.
Heute noch werden die Gäste wie zu Gogols und Turgenjews Zeiten behandelt,
und es ist gleichzeitig herrlich und doch beschämend, in Finnland Gast zu sein.
Jeder Gutsherr lebt wie ein kleiner Alleinherrscher auf seinem „Schloß". Er hat
nicht nur das Gut seiner Ahnen geerbt, sondern auch die Diener. Des Kutschers
Vater und Großvater waren meistens schon Kutscher auf dem Hof, allerdings
sind die Traditionen dadurch unterbrochen, daß der Kutscher von heute schreiben
und lesen kann. Dafür hat er aber auch vom romantischen Aberglauben seiner
Väter eingebüßt! Das Essen ist ein Kapitel für sich: es wäre unmöglich, größere
Ausflüge oder einen längeren Ritt zu unternehmen, da man dadurch Gott behüte
vielleicht eine Mahlzeit versäumen könnte. Es wird täglich sechsmal gegessen,
jedesmal ist das gemeinschaftlich gutschmeckende und herrlich aufgetischte
Essen ein Fest. Die Menschen lieben es, bei Tisch geistreich zu sein. Mein Gast-
geber konnte Stunden zwischen Krebsschwänzen und Schnäpsen verbringen,
seine besten Maximen wurden dabei geboren, auch seine besten Freunde erkannte
er bei dieser Gelegenheit.
Der Wein und der Witz rollen in brüderlicher Wollust durch den Gaumen,
beide schmecken gleich gut. Die Nacht bricht ein: wie in^Holz geschnitten,
servieren die finnischen Diener mit monotonen Gesichtern und vorschrifts-

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