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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

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Heft 8
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Renard, Jules: Glück und Geschmack
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0819

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Touchagues

GLÜCK UND
GESCHMACK
Von
JULES RENARD
Es ist nicht nötig, den Reichen
zu verachten; es genügt, ihn
nicht zu beneiden. Glücklich sein
heißt beneidet zu sein. Nun gibt
es immer jemanden, der uns be-
neidet. Es handelt sich nur darum,
ihn herauszufinden.
Der Geschmack reift auf Kosten
des Glücks.
Unser Leben ist so, wie unser
Charakter es haben will. Wir ge-
stalten es, wie die Schnecke ihr
Gehäuse.
Ein Mensch kann sagen: ich
werde nie Vermögen erwerben,
weil es nicht in meinem Charakter
liegt, reich zu sein.
Daß man die Fehler der anderen
so deutlich erkennt, kommt daher, daß man sie selbst besitzt.
Unser Ziel ist: glücklich zu sein. Man gelangt nur langsam dahin. Es bedarf
dazu einer täglichen Bemühung. Hat man es erreicht, so bleibt viel zu tun übrig:
die anderen zu trösten.
Man liebt nicht die Fehler seiner Freunde, doch hängt man an ihnen.
Sie werden niemals so viel Schlechtes von mir sagen, wie ich von Ihnen denken
würde, wenn ich an Sie dächte.
Man ist nicht gut, doch bemüht man sich, es zu scheinen. Das Resultat ist das
gleiche.
Wozu viel genießen? Nicht genießen ist ebenso unterhaltend und ermüdet
weniger.
Kritik ist leicht, und Kunst ist schwer, und beide sind nicht bequem.
Er hat mehr als Geist: er hat kein Herz mehr.
Man braucht Zeit, um ein Buch zu lesen; weniger, um es zu beurteilen.
Der Tod ist der normale Zustand. Man überschätzt das Leben.
Ich habe keinen Glauben, aber ich habe kleine Glaubenssätze, die mich aufrecht-
erhalten.

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