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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI issue:
Heft 9
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Benn, Gottfried: Genie und Gesundheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0885

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Paralytiker auf den Kontorschemel, mit Hilfe der Analyse den Neurotiker zur
Geschlechtsfreudigkeit zurück: Wäre Schopenhauer nicht der neurotisch schwer
gefesselte Mann gewesen, schreibt ein namhafter Analytiker, hätte er sich einer
Analyse unterzogen, seine Metaphysik trüge ein anderes Gesicht — nämlich ein
behaglicheres, gemütlicheres, hausväterchenhaftes, angenehmes Gesicht, so
wünschte er. Oben spendet er Drüsen und unten Hormone: mit dem Hinterlappen
nivelliert er die Exzentrik, mit dem Vorderlappen führt er den Debilen zum
Gesangbuch empor — mit einem Wort: es gibt kein Schicksal mehr, die Parzen
sind als Direktricen bei einer Lebensversicherung untergekommen, im Acheron
legt man eine Aalzucht an, die antike Vorstellung von dem Furchtbaren des
Menschen wird bei der Eröffnung der Hygieneausstellung stehend und unter
allgemeiner Teilnahme, während die deutschen Ströme in verschiedenfarbigen
Gewändern vorüberziehen, in tiefer Ergriffenheit auf ihren Normalgehalt zurück-
geführt.
Wäre es doch schon die verflossenen Jahrhunderte geschehen! Hochbetagte
edle Greise ständen neben uns, Barden, staatlich anerkannte Geistesringer, Ehren-
bürger ihrer Vaterstadt, vitamingesichert und prohibitioniert. Leider soffen sie:
Opium : De Quincey, Coleridge, Poe. Absinth : Musset, Wilde. Äther : Maupassant
(außer Alkohol und Opium), Jean Lorrain. Haschisch: Baudelaire, Gautier.
Alkohol: Alexander (der im Rausch seinen besten Freund und Mentor tötete und
der an den Folgen schwerster Exzesse starb), Socrates, Seneca, Alcibiades, Cato,
Septimus Severus (starb im Rausch), Cäsar, Muhamed II., der Große (starb im
Delirium tremens), Steen, Rembrandt, Caracci, Barbatelli Pocetti, Li-Tai-Po
(„der große Dichter, welcher trinkt" starb durch Alkohol), Burns, Gluck (Wein,
Branntwein, starb an Alkoholvergiftung), der Dichter Schubart, Schubert (trank
seit dem 15. Jahr), Nerval, Tasso, Händel, Dussek, G. Keller, Hoffmann, Poe,
Musset, Verlaine, Lamb, Murger, Grabbe, Lenz, Jean Paul, Reuter (Dipsomane,
Quartalssäufer), Scheffel, Liliencron, Reger, Hartleben, Löns, Beethoven (starb
bekanntlich an alkoholischer Lebercirrhose) — zitiert nach Lange-Eichbaum:
Genie, Irrsinn, Ruhm.
Es starben an arteriosclerotischer Verblödung: Kant, Stendhal, Faraday, Linne,
G. Keller, Böcklin. Litten an Epilepsie : van Ghog, Platen, Flaubert, Dostojewsky.
Hatten klinisch manifeste Schizophrenien: Hölderlin, van Ghog, Tasso, Newton,
Strindberg, Panizza. Starben an Paralyse : Manet, Makart, Maupassant, Nietzsche,
Lenau, Hugo Wolf, Baudelaire, Donizetti, Jules de Goncourt, Lautensack. Waren
ihr Lebenlang asexuell: Newton, Kant, Menzel (die berühmte Stelle aus seinem
Testament: „Gleicherweise kann niemand auftauchen, irgendwelche Namens-
rechte geltend zu machen. Nicht allein, daß ich ehelos geblieben bin, habe ich auch
lebenslang mich jederlei Beziehung zum anderen Geschlecht [als solchem] ent-
schlagen. Kurz, es fehlt an jedem selbst geschaffenen Klebestoff zwischen mir und
der Außenwelt") — wo immer also man hinsieht: das Produktive einer Masse
durchsetzt von Psychopathien, Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxys-
men; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen, Impo-
tenzen — gibt es überhaupt ein gesundes Genie?
Ja. Es gibt eine durch die enormste geistige Gewalt lebenslänglich kompen-
sierte Antinomie, es gibt die immer wieder durch spirituelle Leistungen gelöschte

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