primäre Dyshormonie, Goethe ist der Fall dafür, auch Schiller, ähnlich Leibniz.
Es ist überhaupt nicht so, daß psychopathologische Züge an sich irgend etwas mit
Genie zu tun hätten. Im Gegenteil, die Masse der Geisteskranken und Psycho-
pathen sind Minusvarianten sowohl im Sinne ihrer Intelligenz wie ihres soziolo-
gischen Wertes. Ja, Kretschmer, wohl der bedeutendste Spezialforscher dieses Ge-
biets, geht so weit, zu sagen, ein kräftiges Stück Gesundheit und Spießbürgertum
gehöre zum ganz großen Genie meist mit hinzu. Dies Stück gesunder Normal-
bürgerlichkeit mit dem Behagen an Essen und Trinken, an solider Pflichterfüllung
und Staatsbürgerlichkeit, an Amt und Würden, an Weib und Kind, dies breite
Stück Normalbürgerlichkeit ist es, sagt er, was durch seinen Fleiß, seine Stetigkeit,
ruhige Geschlossenheit und frische Natürlichkeit das große Genie in seinen Wir-
kungen weit über die lauten und vergänglichen Anläufe des Genialischen hinaus-
hebt. Dies dürfte zweifellos richtig sein, zweifellos empirisch wahr. Und dennoch
sagt auch er: die biologische Benachteiligung des Genies gegenüber dem geistigen
Durchschnitt kommt sowohl in der psychopathologischen Individualstatistik wie
in seiner Stellung im Erbgang klar zum Ausdruck. — Und an anderer Stelle: Genie
entsteht im Erbgang besonders gern an dem Punkt, wo eine hochbegabte Familie
zu entarten beginnt. — Und schließlich zusammenfassend: „Je mehr man Bio-
graphien studiert, desto mehr wird man zu der Vermutung gedrängt: dies immer
wiederkehrende psychopathologische Teilelement im Genie ist nicht nur eine
bedauerliche äußere Unvermeidlichkeit biologischen Geschehens, sondern ein
unerläßlicher innerer Wesensbestandteil, ein unerläßliches Ferment vielleicht für
jede Genialität im engsten Sinne des Worts."
Also kein Zweifel, der individuelle Organismus als medizinischer Begriff ist
der Gestalter des Genies. Die geistigen Spannungen sind Korrelate körperlicher
Anomalien, nicht im vagen Sinne der Parallelität, sondern des Identischen. Ge-
schlossenes System, Monismus der Krisen. Das „le styl c'est l'homme" des acht-
zehnten Jahrhunderts, verwandelt unter dem Einfluß der Konstitutions- und
Typenforschung der letzten Jahrzehnte in ein „le styl c'est lecorps" ; die Kabba-
listik einer Psychologie der Seele und ihrer Vermögen verflüchtigt vor einer von
Geisteswissenschaften und Pathographie angesetzten Analyse biologischer Zu-
sammenhänge. Junge Wissenschaft, erst im Entstehen. Aber schon spürt sie die
unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen, die Muskelspannung, das motorische
Agens aus dem Werk: in der Handschrift des Meißelhiebes oder des Pinsel-
strichs: rundbogig bei Raffael, spiralig bei Michelangelo, flott und breit bei Rubens
und Fran^ Hals, tiftelnd bei Meissonier. Sammelt die sonderbare Mitteilung über
Mozarts Ohr: sein äußeres Ohr auf einer tieferen Entwicklungsstufe stehen ge-
blieben, ein zurückgebliebenes und mißgebildetes Ohr vom deutlichen Charakter
des Atavismus. Durchforscht systematisch Beethovens Krankheiten, er litt bekannt-
lich an einer Otosclerose, einer schweren Erkrankung, die zur Ertaubung führt.
Er hatte dabei Gehörs-Paresthesien: kontinuierliche Geräusche in höchsten Tönen,
Pfeifen, Zischen, lang ausgehalten, teils Sausen im Pulsschlag: daher, sagt der
Untersucher, in seinen Schöpfungen die häufige Kontrastierung hoher Diskant-
passagen gegen tiefe rollende Bässe, daher hielten sich seine Tempi immer im
Rahmen des menschlichen Pulsschlages (60—80 in der Minute). Außerdem litt er
an Arteriosclerose und Herzfehler mit allen Folgezuständen, Angina pectoris —-
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Es ist überhaupt nicht so, daß psychopathologische Züge an sich irgend etwas mit
Genie zu tun hätten. Im Gegenteil, die Masse der Geisteskranken und Psycho-
pathen sind Minusvarianten sowohl im Sinne ihrer Intelligenz wie ihres soziolo-
gischen Wertes. Ja, Kretschmer, wohl der bedeutendste Spezialforscher dieses Ge-
biets, geht so weit, zu sagen, ein kräftiges Stück Gesundheit und Spießbürgertum
gehöre zum ganz großen Genie meist mit hinzu. Dies Stück gesunder Normal-
bürgerlichkeit mit dem Behagen an Essen und Trinken, an solider Pflichterfüllung
und Staatsbürgerlichkeit, an Amt und Würden, an Weib und Kind, dies breite
Stück Normalbürgerlichkeit ist es, sagt er, was durch seinen Fleiß, seine Stetigkeit,
ruhige Geschlossenheit und frische Natürlichkeit das große Genie in seinen Wir-
kungen weit über die lauten und vergänglichen Anläufe des Genialischen hinaus-
hebt. Dies dürfte zweifellos richtig sein, zweifellos empirisch wahr. Und dennoch
sagt auch er: die biologische Benachteiligung des Genies gegenüber dem geistigen
Durchschnitt kommt sowohl in der psychopathologischen Individualstatistik wie
in seiner Stellung im Erbgang klar zum Ausdruck. — Und an anderer Stelle: Genie
entsteht im Erbgang besonders gern an dem Punkt, wo eine hochbegabte Familie
zu entarten beginnt. — Und schließlich zusammenfassend: „Je mehr man Bio-
graphien studiert, desto mehr wird man zu der Vermutung gedrängt: dies immer
wiederkehrende psychopathologische Teilelement im Genie ist nicht nur eine
bedauerliche äußere Unvermeidlichkeit biologischen Geschehens, sondern ein
unerläßlicher innerer Wesensbestandteil, ein unerläßliches Ferment vielleicht für
jede Genialität im engsten Sinne des Worts."
Also kein Zweifel, der individuelle Organismus als medizinischer Begriff ist
der Gestalter des Genies. Die geistigen Spannungen sind Korrelate körperlicher
Anomalien, nicht im vagen Sinne der Parallelität, sondern des Identischen. Ge-
schlossenes System, Monismus der Krisen. Das „le styl c'est l'homme" des acht-
zehnten Jahrhunderts, verwandelt unter dem Einfluß der Konstitutions- und
Typenforschung der letzten Jahrzehnte in ein „le styl c'est lecorps" ; die Kabba-
listik einer Psychologie der Seele und ihrer Vermögen verflüchtigt vor einer von
Geisteswissenschaften und Pathographie angesetzten Analyse biologischer Zu-
sammenhänge. Junge Wissenschaft, erst im Entstehen. Aber schon spürt sie die
unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen, die Muskelspannung, das motorische
Agens aus dem Werk: in der Handschrift des Meißelhiebes oder des Pinsel-
strichs: rundbogig bei Raffael, spiralig bei Michelangelo, flott und breit bei Rubens
und Fran^ Hals, tiftelnd bei Meissonier. Sammelt die sonderbare Mitteilung über
Mozarts Ohr: sein äußeres Ohr auf einer tieferen Entwicklungsstufe stehen ge-
blieben, ein zurückgebliebenes und mißgebildetes Ohr vom deutlichen Charakter
des Atavismus. Durchforscht systematisch Beethovens Krankheiten, er litt bekannt-
lich an einer Otosclerose, einer schweren Erkrankung, die zur Ertaubung führt.
Er hatte dabei Gehörs-Paresthesien: kontinuierliche Geräusche in höchsten Tönen,
Pfeifen, Zischen, lang ausgehalten, teils Sausen im Pulsschlag: daher, sagt der
Untersucher, in seinen Schöpfungen die häufige Kontrastierung hoher Diskant-
passagen gegen tiefe rollende Bässe, daher hielten sich seine Tempi immer im
Rahmen des menschlichen Pulsschlages (60—80 in der Minute). Außerdem litt er
an Arteriosclerose und Herzfehler mit allen Folgezuständen, Angina pectoris —-
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