Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0923
DOI issue:
Heft 9
DOI article:Károlyi, Katinka: Ist Treue eine Tugend?
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Es gibt aber noch andere Methoden, die Frauen in der Knechtschaft zu halten,
die auf die eheliche Treue keine geringere Wirkung ausüben als der Keuschheits-
gürtel alter Zeiten — und das ist die ökonomische Abhängigkeit der Frau. In
Frankreich z. B., wo Napoleons Groll gegen Josephines Extravaganzen dem
Mann das Verfügungsrecht über den gesamten Verdienst seiner Frau verliehen
hat, ferner die absolute und alleinige Kontrolle über ihre Kinder (er kann sie in
Institute stecken ohne ihre Einwilligung), wo die Frau weder ein Bankkonto noch
irgend etwas sonst besitzen, weder eine Arbeit anfangen noch irgendein Geschäft
unternehmen darf ohne ihres Mannes Erlaubnis — ist die Frau vollkommen auf
die Gnade des Mannes angewiesen, und ihr Geschick ist weder besser noch
schlechter als das der Indermädchen mit den achtzehnpfündigen Fußspangen!
Wenn sie sich scheiden läßt, hat sie es noch schwerer. In den meisten Ländern
kann eine selbständige Frau nicht genug verdienen, um bescheiden zu leben,
besonders, wenn sie noch Kinder großzuziehen hat. Sie ist durchweg auf einen
Freund angewiesen, der sie unterstützt, und das Gehalt, das man ihr bietet, ist
gerade nur das Feigenblatt ihrer Anständigkeit. Die normale Frau sieht auch heut-
zutage noch — und wer könnte sie deswegen verurteilen — im Beruf einen Not-
behelf und ihr Zukunftsglück in einer Versorgung, am liebsten legitim; illegitim
nur, wenn keine andere Möglichkeit besteht. Ist es ihr schließlich nach einem auf-
reibenden Kampf gelungen, einen Mann zu bekommen, wird sie dann seinen
Verlust riskieren — einem Phantasiegebilde zuliebe —, um sich von neuem den
Härten des Einzellebens auszusetzen?
Furcht ist es nicht allein, die die Tugend der Frau behütet; oftmals ist es Mangel
an Temperament oder Phantasie. Aber wo ist in diesem Fall das Verdienst? Mit
welcher unberechtigten Verachtung sehen solche Frauen, die sich für tugendhaft
halten, auf ihre weniger glücklichen oder glücklicheren Geschlechtsgenossinnen
herab, deren Lebensweg stürmischer war als der ihre! Ich habe oft darüber nach-
gedacht, ob diese Frauen, die durch ihr Leben gingen ohne Versuchung, unberührt
von Leidenschaften, vegetierend unter dem Glaskasten der Konvention, ihre
Geborgenheit und den Ruf der Wohlanständigkeit preisgeben würden, wenn sie
wüßten, was das Leben manchmal bieten kann? Ja, kann man denn Unkenntnis
des Lasters „Tugend" nennen?
Und wie ist es mit der andern Kategorie Frau, die, obgleich sie niemals ihren
Mann wirklich betrogen hat, doch mehrmals am Tage mit einem andern Mann in
Gedanken und Wünschen Ehebruch trieb? Kann man sie treu oder tugendhaft
nennen? Hat Untreue des Geistes keinerlei Bedeutung? Es ist eine merkwürdige
Eigenschaft des männlichen Geschlechts, daß sich die Eifersucht nur auf den
Körper der Frau erstreckt, während man sich um ihre Gedanken und Wünsche
nicht kümmert. Entspringt das dem praktischen Sinn des Mannes? Hat er fest-
gestellt, daß der Körper leichter zu kontrollieren ist?
Wenn Treue nicht erzwungen, nicht mit Gewaltmitteln kontrolliert, sondern
freiwillig geübt wird, wie tugendsame Menschen es sich vorstellen, so ist das nur
möglich bei völligem Stumpfsinn und Stillstand und gänzlicher Unfähigkeit zu
geistiger Beweglichkeit und Entwicklung auf beiden Seiten.
(Deutsch von Eva Maag)
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die auf die eheliche Treue keine geringere Wirkung ausüben als der Keuschheits-
gürtel alter Zeiten — und das ist die ökonomische Abhängigkeit der Frau. In
Frankreich z. B., wo Napoleons Groll gegen Josephines Extravaganzen dem
Mann das Verfügungsrecht über den gesamten Verdienst seiner Frau verliehen
hat, ferner die absolute und alleinige Kontrolle über ihre Kinder (er kann sie in
Institute stecken ohne ihre Einwilligung), wo die Frau weder ein Bankkonto noch
irgend etwas sonst besitzen, weder eine Arbeit anfangen noch irgendein Geschäft
unternehmen darf ohne ihres Mannes Erlaubnis — ist die Frau vollkommen auf
die Gnade des Mannes angewiesen, und ihr Geschick ist weder besser noch
schlechter als das der Indermädchen mit den achtzehnpfündigen Fußspangen!
Wenn sie sich scheiden läßt, hat sie es noch schwerer. In den meisten Ländern
kann eine selbständige Frau nicht genug verdienen, um bescheiden zu leben,
besonders, wenn sie noch Kinder großzuziehen hat. Sie ist durchweg auf einen
Freund angewiesen, der sie unterstützt, und das Gehalt, das man ihr bietet, ist
gerade nur das Feigenblatt ihrer Anständigkeit. Die normale Frau sieht auch heut-
zutage noch — und wer könnte sie deswegen verurteilen — im Beruf einen Not-
behelf und ihr Zukunftsglück in einer Versorgung, am liebsten legitim; illegitim
nur, wenn keine andere Möglichkeit besteht. Ist es ihr schließlich nach einem auf-
reibenden Kampf gelungen, einen Mann zu bekommen, wird sie dann seinen
Verlust riskieren — einem Phantasiegebilde zuliebe —, um sich von neuem den
Härten des Einzellebens auszusetzen?
Furcht ist es nicht allein, die die Tugend der Frau behütet; oftmals ist es Mangel
an Temperament oder Phantasie. Aber wo ist in diesem Fall das Verdienst? Mit
welcher unberechtigten Verachtung sehen solche Frauen, die sich für tugendhaft
halten, auf ihre weniger glücklichen oder glücklicheren Geschlechtsgenossinnen
herab, deren Lebensweg stürmischer war als der ihre! Ich habe oft darüber nach-
gedacht, ob diese Frauen, die durch ihr Leben gingen ohne Versuchung, unberührt
von Leidenschaften, vegetierend unter dem Glaskasten der Konvention, ihre
Geborgenheit und den Ruf der Wohlanständigkeit preisgeben würden, wenn sie
wüßten, was das Leben manchmal bieten kann? Ja, kann man denn Unkenntnis
des Lasters „Tugend" nennen?
Und wie ist es mit der andern Kategorie Frau, die, obgleich sie niemals ihren
Mann wirklich betrogen hat, doch mehrmals am Tage mit einem andern Mann in
Gedanken und Wünschen Ehebruch trieb? Kann man sie treu oder tugendhaft
nennen? Hat Untreue des Geistes keinerlei Bedeutung? Es ist eine merkwürdige
Eigenschaft des männlichen Geschlechts, daß sich die Eifersucht nur auf den
Körper der Frau erstreckt, während man sich um ihre Gedanken und Wünsche
nicht kümmert. Entspringt das dem praktischen Sinn des Mannes? Hat er fest-
gestellt, daß der Körper leichter zu kontrollieren ist?
Wenn Treue nicht erzwungen, nicht mit Gewaltmitteln kontrolliert, sondern
freiwillig geübt wird, wie tugendsame Menschen es sich vorstellen, so ist das nur
möglich bei völligem Stumpfsinn und Stillstand und gänzlicher Unfähigkeit zu
geistiger Beweglichkeit und Entwicklung auf beiden Seiten.
(Deutsch von Eva Maag)
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