Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0924
DOI issue:
Heft 9
DOI article:Pringsheim, Klaus: Der Unfug der neudeutschen Tanzkunst
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DER UNFUG
DER NEUDEUTSCHEN TANZKUNST
Von
KLAUS PRINGSHEIM
„Sirrende, pfeifende, grünlich schwillende Luft: Raumton. Im Hintergründe zittert der
Chor der Geister herein und stellt sich flüstrig flackernd zum Altäre auf... Von den
schreienden Glocken angefallen, reißt sich der Frauenchor in fliehenden Haufen vom Platz ...
Ein Schrei, in dem der Chor der Geister hilflos zerflackt. Als brächen die Horizonte klirrend
auseinander, rüttelt ein wütendes Beben an den Ufern der Welt: der Herabsturz aller Glocken
und Türme wird jetzt lautlich-dramatische Aktion."
Kein langes Rätselraten, das sind Regieanweisungen aus Albert Talhoffs
„Totenmal". Das Ganze nennt sich : Dramatisch-chorische Vision für Wort,
Tanz, Licht. Die Uraufführung war in München. Was es mit den Glocken und
Türmen für eine Bewandtnis hat, darüber gibt der Dichter in einem Lehrsatz
aus seiner „Dramaturgie der Sprache" erschöpfend Auskunft: „Jeder Buchstabe
ist ein Glockenturm mit überweltlichem Geläute."
So viel — mehr ist darüber nicht zu sagen — über Talhoffs Totenmal. Wie aber
steht dazu Mar, Wigman? Sie hat es drucken lassen: „Wie ich zu Albert Talhoffs
Totenmal stehe." Kurz gesagt, erblickt sie darin den ersten groß angelegten
Schritt zum eigentlichen Einbau des tänzerischen Wesens in die theatralische
Gestaltung im Sinn einer synthetischen Form. Darum:
„Zum ersten Male seit meiner langjährigen Arbeit auf dem Gebiete des Tanzes habe ich
die eigene Ideenwelt zurückgestellt und mich bewußt als dienender Faktor in die Ideenwelt des
Talhoffschen Werkes eingegliedert; dieser Verzicht auf eigenschöpferische Tätigkeit wurde
mir allerdings dadurch erleichtert, daß Talhoff Entwurf und Aufbau der tänzerischen Vor-
gänge selbst ganz klar gesehen und die tänzerische Komposition in einer Form niedergelegt
hat, die in ihrer Bildhaftigkeit wie eine gedichtete Choreographie dasteht."
Und : hier mitzuarbeiten, ist ihr eine Pflicht, „die eine junge tänzerische Generation
von mir als ihrer Vorkämpferin fordern kann".
Mir als Vorkämpferin, eigene Ideenwelt zurückgestellt, Verzicht auf eigen-
schöpferische Tätigkeit... das ist der parvenühafte Ton, den früher Operetten-
librettisten hatten, und in dem heute nur noch Filmdrehbuchschreiber von sich
reden. Aber das ist gar nichts gegen das grauenhaft verschmuste, verschmockte
Fach-Idiom, dessen sich heutige Tanzkritiker im Verkehr mit ihren Lesern
bedienen. Man braucht nur irgendeine berliner Zeitung in die Hand zu nehmen.
In der Provinzpresse treiben sie's noch ärger. Tanz, man sollte meinen, daß das
eine Sache ist, gegen die es keine ablehnenden Gefühle gibt; vulgär ausgedrückt:
jeder ist gern dabei. Diesen neudeutschen Tänzern ist es mit Hilfe ihrer organisierten
Propheten und Propagandisten gelungen, alle natürlichen Gefühle des Wohl-
wollens, die wir für sie hätten, in ihr unhöflichstes Gegenteil zu verkehren. Die
Zahl derer, die sich für ihre Sache eine Art von verzweifeltem Bildungsinteresse
abschwatzen lassen, ist verschwindend. Nie hat der Kunsttanz so wew^ Resonanz
gehabt wie heute, da er sich als Tanzkunst gar so wichtig macht.
Diese tanzenden Neudeutschen, denen „altes Ballett" ein Greuel ist, bilden
eine Welt für sich. Sie haben ihre Kongresse, ihre Richtungen, ihre Konflikte und
Polemiken; und selbstverständlich, denn sie sind ein Stückchen heutige Welt, ihre
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DER NEUDEUTSCHEN TANZKUNST
Von
KLAUS PRINGSHEIM
„Sirrende, pfeifende, grünlich schwillende Luft: Raumton. Im Hintergründe zittert der
Chor der Geister herein und stellt sich flüstrig flackernd zum Altäre auf... Von den
schreienden Glocken angefallen, reißt sich der Frauenchor in fliehenden Haufen vom Platz ...
Ein Schrei, in dem der Chor der Geister hilflos zerflackt. Als brächen die Horizonte klirrend
auseinander, rüttelt ein wütendes Beben an den Ufern der Welt: der Herabsturz aller Glocken
und Türme wird jetzt lautlich-dramatische Aktion."
Kein langes Rätselraten, das sind Regieanweisungen aus Albert Talhoffs
„Totenmal". Das Ganze nennt sich : Dramatisch-chorische Vision für Wort,
Tanz, Licht. Die Uraufführung war in München. Was es mit den Glocken und
Türmen für eine Bewandtnis hat, darüber gibt der Dichter in einem Lehrsatz
aus seiner „Dramaturgie der Sprache" erschöpfend Auskunft: „Jeder Buchstabe
ist ein Glockenturm mit überweltlichem Geläute."
So viel — mehr ist darüber nicht zu sagen — über Talhoffs Totenmal. Wie aber
steht dazu Mar, Wigman? Sie hat es drucken lassen: „Wie ich zu Albert Talhoffs
Totenmal stehe." Kurz gesagt, erblickt sie darin den ersten groß angelegten
Schritt zum eigentlichen Einbau des tänzerischen Wesens in die theatralische
Gestaltung im Sinn einer synthetischen Form. Darum:
„Zum ersten Male seit meiner langjährigen Arbeit auf dem Gebiete des Tanzes habe ich
die eigene Ideenwelt zurückgestellt und mich bewußt als dienender Faktor in die Ideenwelt des
Talhoffschen Werkes eingegliedert; dieser Verzicht auf eigenschöpferische Tätigkeit wurde
mir allerdings dadurch erleichtert, daß Talhoff Entwurf und Aufbau der tänzerischen Vor-
gänge selbst ganz klar gesehen und die tänzerische Komposition in einer Form niedergelegt
hat, die in ihrer Bildhaftigkeit wie eine gedichtete Choreographie dasteht."
Und : hier mitzuarbeiten, ist ihr eine Pflicht, „die eine junge tänzerische Generation
von mir als ihrer Vorkämpferin fordern kann".
Mir als Vorkämpferin, eigene Ideenwelt zurückgestellt, Verzicht auf eigen-
schöpferische Tätigkeit... das ist der parvenühafte Ton, den früher Operetten-
librettisten hatten, und in dem heute nur noch Filmdrehbuchschreiber von sich
reden. Aber das ist gar nichts gegen das grauenhaft verschmuste, verschmockte
Fach-Idiom, dessen sich heutige Tanzkritiker im Verkehr mit ihren Lesern
bedienen. Man braucht nur irgendeine berliner Zeitung in die Hand zu nehmen.
In der Provinzpresse treiben sie's noch ärger. Tanz, man sollte meinen, daß das
eine Sache ist, gegen die es keine ablehnenden Gefühle gibt; vulgär ausgedrückt:
jeder ist gern dabei. Diesen neudeutschen Tänzern ist es mit Hilfe ihrer organisierten
Propheten und Propagandisten gelungen, alle natürlichen Gefühle des Wohl-
wollens, die wir für sie hätten, in ihr unhöflichstes Gegenteil zu verkehren. Die
Zahl derer, die sich für ihre Sache eine Art von verzweifeltem Bildungsinteresse
abschwatzen lassen, ist verschwindend. Nie hat der Kunsttanz so wew^ Resonanz
gehabt wie heute, da er sich als Tanzkunst gar so wichtig macht.
Diese tanzenden Neudeutschen, denen „altes Ballett" ein Greuel ist, bilden
eine Welt für sich. Sie haben ihre Kongresse, ihre Richtungen, ihre Konflikte und
Polemiken; und selbstverständlich, denn sie sind ein Stückchen heutige Welt, ihre
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