Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt — 10.1930

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Dmitrijewskij, S.: Der menschenscheue Tschitscherin
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0976

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
eine Spur hinterlassen haben, nicht einmal in Form einer amüsanten Anekdote:
die Wunderlichkeiten unscheinbarer Menschen interessieren niemanden. Lenin
und die Revolution haben ihn zum Außenminister eines Riesenreiches gemacht —
und in einer ungeheuren geschichtlichen Epoche.
Tschitscherin hat sich nicht selbst die Position geschaffen. Er strebte nicht nach
Macht, er hatte sich nicht mit gierigen und starken Zähnen an ihr festgebissen, wie
viele andere, er kletterte nicht von Stufe zu Stufe, andere zurückdrängend. Hätte
es keinen Lenin gegeben, er säße wahrscheinlich jetzt in einem der unzähligen
Sowjetarchive und heftete Akten aneinander. Lenin packte ihn am Kragen seiner
abgetragenen Jacke und setzte ihn auf den Sessel des Volkskommissars für aus-
wärtige Angelegenheiten. Nach einiger Zeit ging der Name Tschitscherins durch
die ganze Welt. Lenin hatte sich nicht geirrt.
Was zog Lenin zu Tschitscherin hin? Daß dieser einst Beamter des Außen-
ministeriums war? Kaum. Tschitscherin war im alten Ministerium eine zu
unbedeutende Figur, und zu wirklicher diplomatischer Tätigkeit hatte er gar
keine Beziehung. Der Name? Daß sein Vater Tschitscherin hieß und seine Mutter
eine Gräfin Tschapskaja war? Das spielte eine gewisse Rolle. Lenin schätzte
Namen und Beziehungen. Wegen seiner Beziehungen zu den ausländischen
Industriellen unterstützte und förderte er Krassin. Tschitscherin bildete durch
seinen Namen innerhalb wie außerhalb des Landes einen lebenden Zusammenhang
mit dem geschichtlichen Rußland. Es war beispielsweise dasselbe wie die Heran-
ziehung Brussilows während des polnischen Krieges. Ich bin nicht wenigen
„reinen Proletariern" und Personen aus dem Bauernstand begegnet, die mit einem
zufriedenen Lächeln äußerten: „Tschitscherin? Das ist ein Kapitel für sich. Er
kommt von den Adligen . .
Das war aber natürlich nicht die Hauptsache. Die Hauptsache waren die
Besonderheiten von Tschitscherins Natur.
Tschitscherin war nicht ein Mann der Aktion. Er besaß keine gebieterische
Hand, welche die Ereignisse und die Menschen leitet. Im realen Leben war er
weich wie Wachs, furchtsam wie ein Huhn, schwach wie ein Kind.
Das Leben kannte er nicht, und er fürchtete es. Er war ein eigenartiger Mensch,
„nicht von dieser Welt". Nicht im Sinne irgendeiner Askese. Er war nie Asket
gewesen. Er konnte lange, nervös und brummend, eine Weste oder eine Krawatte
aussuchen, die am modernsten und originellsten wäre. Konnte durch eine zer-
drückte Krawatte mehr als durch eine unangenehme Note in Aufregung geraten.
Er trug gern zur Militäruniform einen längst abgeschafften bucharischen „roten"
Orden. Stundenlang konnte er Skandalklatsch zuhören. Er verschmähte nicht
guten Wein, Haselhühner und Wild mit einer besonders pikanten Soße. Kaum
aber hatte er jemals ein lebendes Huhn gesehen. Und wenn er es erblickt hätte,
er hätte den Kopf verloren und nicht gewußt, was mit diesem Tier anzufangen.
Wahrscheinlich war für ihn das Pflücken des Weins von einer lebenden Rebe
keine leichte und gewohnte Angelegenheit. Mit einem Wort: von den Lebens-
gütern konnte er ohne Schüchternheit und mit Vergnügen nur die leblosen
Gegenstände wahrnehmen, — außer der alten Katze, seiner einzigen Haus-
genossin und Freundin, mit der er sich abends am Flügel zu unterhalten pflegte.
Diese Katze war kein seltsames und unverständliches Wesen mehr, geboren vom

640
 
Annotationen