Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0990
DOI issue:
Heft 10
DOI article:Čapek, Karel: U.S.A. und U.S.S.R.: Erinnerungen aus der Zukunft
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1 Musterspital
1 Mustermolkerei
1 Musterarbeiterwohnung
1 Mustervolksschule
1 Muster-Sodawasserkiosk
1 Musterwirtschaft
1 Musterweizenfeld
1 Öffentlichen Musterabort
1 Muster-Eisenbahnwaggon
1 Muster-Gemeindestier
und noch einige andere Musterobjekte, die mich von dem unerhörten Fortschritt
im ganzen Lande überzeugten.
Nachdem ich all dies gesehen hatte, ging ich jenem bedeutenden Funktionär
meinen Dank abstatten und verhehlte ihm nicht meine Begeisterung. Er sagte, dies
wäre erst der Beginn der wirtschaftlichen Entfaltung des sowjetistischen Welt-
reiches; eben jetzt werde das bisherige Dreihundertjahrprogramm durch ein
weitaus rationelleres, umfassendes und verbindliches Programm für weitere
siebentausend Jahre ersetzt. Bis dahin müßten sich die Sowjetbürger mit etwas
geringeren Nahrungsmittelzuteilungen und einer gewissen Freiheitseinschränkung
begnügen; aber sie täten dies gern, ja mit Begeisterung. Übrigens werde, wie mir
jener Würdenträger versicherte, das morsche Regime aller übrigen Staaten binnen
kürzester Zeit zusammenbrechen, vermutlich schon im kommenden Monat.
Auf der Fahrt von Moskau machte ich die Bekanntschaft eines Sowjet-
diplomaten, der in einer bestimmten außenpolitischen Mission verreiste. Von ihm
erfuhr ich vertraulich, daß Moskau heiße Tage durchmache. Es hatte sich nämlich
eine mündliche Äußerung Lenins erhalten, daß er, Iljitsch, einen ständigen
ökonomischen Rat zu errichten beabsichtige. Dagegen war eine Fraktion oder
Sekte entstanden, welche behauptet, daß diese Äußerung ungenau aufgezeichnet
worden sei und daß Iljitsch gesagt habe (oder hätte sagen wollen), daß er einen
ständigen ökumenischen Rat errichten werde. Infolgedessen sei ein leiden-
schaftlicher Kampf zwischen den Ökonomisten und den Ökumenisten aus-
gebrochen; zu diesen bekennen sich hauptsächlich die Tartaren, Turkmenen,
Kalmücken und überhaupt der ganze ferne Osten. Eine dritte Sekte bestreitet
überhaupt die erwähnte Äußerung und lehnt jegliche mündliche Überlieferung
über Iljitsch ab, indem sie sich lediglich auf die Bücher stützt. Dieser Aberglaube
verbreitet sich wie eine Lawine von Leningrad und Archangelsk über ganz
Nordrußland. Moskau erklärt, diese Dissidenten seien von den nichtrussischen
Ungläubigen bestochen, und verfolgt sie mit Feuer und Schwert. Inzwischen aber
haben die Ökumenisten den Ökonomisten, die von einem bucharischen Derwisch
angeführt werden, welcher sich für einen Nachkommen Bucharins ausgibt, den
Religionskrieg erklärt. In Moskau selbst wird schließlich gemunkelt, der heutige
Inhaber der höchsten Gewalt sei ein falscher Diktator; er gab sich unberechtigt
für einen Grusinier oder mohammedanischen Gurijzen aus, obzwar er ein ge-
wöhnlicher rechtgläubiger Russe sei, der in Wirklichkeit Waska Protogerow
heiße. Dazu ist noch eine Reihe dogmatischer Zwistigkeiten hinzuzurechnen, wie
der Zwist um den XXVII. Artikel der Resolution des Charkower Sowjet, der
Zwist um den Sinn der Worte „Leitung des Wirtschaftsunternehmens", der
Zwist zwischen dem sogenannten radikalen und dem sogenannten kompromiß-
losen Flügel — kurz, es sei, wie in dem ganzen verflossenen Jahrhundert, zu er-
warten notwendig, daß das Sowjetregime vor seinem unmittelbaren Zusammen-
bruch stehe. (Deutsch von Otto Pick)
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1 Mustermolkerei
1 Musterarbeiterwohnung
1 Mustervolksschule
1 Muster-Sodawasserkiosk
1 Musterwirtschaft
1 Musterweizenfeld
1 Öffentlichen Musterabort
1 Muster-Eisenbahnwaggon
1 Muster-Gemeindestier
und noch einige andere Musterobjekte, die mich von dem unerhörten Fortschritt
im ganzen Lande überzeugten.
Nachdem ich all dies gesehen hatte, ging ich jenem bedeutenden Funktionär
meinen Dank abstatten und verhehlte ihm nicht meine Begeisterung. Er sagte, dies
wäre erst der Beginn der wirtschaftlichen Entfaltung des sowjetistischen Welt-
reiches; eben jetzt werde das bisherige Dreihundertjahrprogramm durch ein
weitaus rationelleres, umfassendes und verbindliches Programm für weitere
siebentausend Jahre ersetzt. Bis dahin müßten sich die Sowjetbürger mit etwas
geringeren Nahrungsmittelzuteilungen und einer gewissen Freiheitseinschränkung
begnügen; aber sie täten dies gern, ja mit Begeisterung. Übrigens werde, wie mir
jener Würdenträger versicherte, das morsche Regime aller übrigen Staaten binnen
kürzester Zeit zusammenbrechen, vermutlich schon im kommenden Monat.
Auf der Fahrt von Moskau machte ich die Bekanntschaft eines Sowjet-
diplomaten, der in einer bestimmten außenpolitischen Mission verreiste. Von ihm
erfuhr ich vertraulich, daß Moskau heiße Tage durchmache. Es hatte sich nämlich
eine mündliche Äußerung Lenins erhalten, daß er, Iljitsch, einen ständigen
ökonomischen Rat zu errichten beabsichtige. Dagegen war eine Fraktion oder
Sekte entstanden, welche behauptet, daß diese Äußerung ungenau aufgezeichnet
worden sei und daß Iljitsch gesagt habe (oder hätte sagen wollen), daß er einen
ständigen ökumenischen Rat errichten werde. Infolgedessen sei ein leiden-
schaftlicher Kampf zwischen den Ökonomisten und den Ökumenisten aus-
gebrochen; zu diesen bekennen sich hauptsächlich die Tartaren, Turkmenen,
Kalmücken und überhaupt der ganze ferne Osten. Eine dritte Sekte bestreitet
überhaupt die erwähnte Äußerung und lehnt jegliche mündliche Überlieferung
über Iljitsch ab, indem sie sich lediglich auf die Bücher stützt. Dieser Aberglaube
verbreitet sich wie eine Lawine von Leningrad und Archangelsk über ganz
Nordrußland. Moskau erklärt, diese Dissidenten seien von den nichtrussischen
Ungläubigen bestochen, und verfolgt sie mit Feuer und Schwert. Inzwischen aber
haben die Ökumenisten den Ökonomisten, die von einem bucharischen Derwisch
angeführt werden, welcher sich für einen Nachkommen Bucharins ausgibt, den
Religionskrieg erklärt. In Moskau selbst wird schließlich gemunkelt, der heutige
Inhaber der höchsten Gewalt sei ein falscher Diktator; er gab sich unberechtigt
für einen Grusinier oder mohammedanischen Gurijzen aus, obzwar er ein ge-
wöhnlicher rechtgläubiger Russe sei, der in Wirklichkeit Waska Protogerow
heiße. Dazu ist noch eine Reihe dogmatischer Zwistigkeiten hinzuzurechnen, wie
der Zwist um den XXVII. Artikel der Resolution des Charkower Sowjet, der
Zwist um den Sinn der Worte „Leitung des Wirtschaftsunternehmens", der
Zwist zwischen dem sogenannten radikalen und dem sogenannten kompromiß-
losen Flügel — kurz, es sei, wie in dem ganzen verflossenen Jahrhundert, zu er-
warten notwendig, daß das Sowjetregime vor seinem unmittelbaren Zusammen-
bruch stehe. (Deutsch von Otto Pick)
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