Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 10.1930
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https://doi.org/10.11588/diglit.73550#0998
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Heft 10
DOI Artikel:Porteño: Irigoyen und Argentinien
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dationsskandal. Bei der Staatsbahn zehn Millionen, bei der Polizeikasse eine Mil-
lion, bei der Steuer, auf dem Zollamt, in den Kasernen. Seit Irigoyen regierte, war
Defraudation von Staatsgeldern eine ständige Chronik geworden. Und dabei ist
Irigoyen selbst — wohl nicht nur, weil er unendlich reich ist — ein absolut ehr-
licher Mensch. Er hatte aber kein Talent, sich anständige Mitarbeiter auszusuchen,
obwohl auch nicht ein simpler Schreiber existierte, der nicht dem Präsidenten
persönlich die Ernennung zu verdanken hatte.
*
Da hat man hier ein schönes Schlagwort geprägt. Die Argentinier selber haben
es getan, also darf wohl der Ausländer wiederholen: das Schlagwort von der
Mentira Criolla. (Wörtlich: „Die Lüge der Einheimischen".) Schreibt z. B. „Cri-
tica", daß sie im letzten Monat eine Tagesauflage von 100000 Exemplaren gehabt
hätte, so findet man am nächsten Tage die gleiche Notiz im gegnerischen Blatt,
aber mit dem Titel „Mentira criolla". Schreibt Irigoyen, daß er in seinem ganzen
Leben niemals jemandem auch nur das geringste Böse zugefügt hätte, so wieder-
holt dies fast die gesamte Presse des Landes mit dem vernichtenden Titel. Solch
eine Mentira criolla ist die Behauptung, daß die Polizei von B. Aires die erste der
Welt sei, wie sie das selber auszuposaunen sich erkühnt. Würde sie sagen: die
teuerste der Welt, dann ginge es noch. Denn teuer ist sie, weiß Gott. An Gehältern
einerseits, aber das ist das Wenigste. Viel teurer sind die coimas, auf Deutsch etwa
Schmiergelder. Albert Londres, in seinem Buch über den Mädchenhandel, hat ein
paar unvollkommene Beispiele gegeben.
Mädchenhandel und Zuhälterei bilden tatsächlich eine der Haupteinnahme-
quellen, eine der sichersten und pünktlichsten. Die Taxe ist meist fest etabliert.
Dafür erfreuen sie sich natürlich der löblichen Protektion der wohllöblichen
Polizeibehörde. Kein Verein zur Bekämpfung, kein Einspruch eines Gesandten
kommt dagegen auf; kein Schutz der Jugendlichen ist möglich, denn die Polizei
selbst stellt so manchesmal gefälschte Dokumente aus, die die Volljährigkeit der
Mädchenhändler-Opfer bestätigen. Ist es zufällig einer privaten Institution ge-
glückt, das Schlupfnest des „Kaftens" ausfindig zu machen, dann ist eins gegen
tausend zu wetten, daß die Polizei ihren Schützling rechtzeitig avisiert, so daß der
Vogel mit seiner Beute längst ausgeflogen ist, wenn offiziell eingeschritten wird.
Dafür haben „Kaftens" und „Souteneurs" ihren Klub, ihre Lokale, ihre Rechts-
anwälte und ihre polizeilichen Freunde, die jüdischen Louis sogar ihren eigenen
Friedhof, da die anständigen Juden ihnen nicht einmal auf dem Friedhof einen
Platz gewähren.
Aber die „Frauenfrage" ist nur eine der reichlichen Einnahmequellen. Eine
andere sind die „heimlichen" Spielhöllen, deren es im Zentrum allein eine Unzahl
gibt, und die auch regelmäßig blechen, um ungeschoren zu bleiben. Eine dritte ist
die ^uiniela, das ist ein eigenartiges, natürlich streng verbotenes Hasardspiel.
Man spielt es im Anschluß an die offiziellen Lotterien. Und da es diese fast jeden
Tag gibt, so spielt man eben jede Woche vier- bis fünfmal. Das Verbot ist derart
streng, daß jedes Kind in jeder Stadt und jedem Dorf die Häuser kennt (Zigaretten-
geschäfte, Friseure usw.), in denen man solche Wetten annimmt. Nur die Polizei
„ignoriert" die Lokale...
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lion, bei der Steuer, auf dem Zollamt, in den Kasernen. Seit Irigoyen regierte, war
Defraudation von Staatsgeldern eine ständige Chronik geworden. Und dabei ist
Irigoyen selbst — wohl nicht nur, weil er unendlich reich ist — ein absolut ehr-
licher Mensch. Er hatte aber kein Talent, sich anständige Mitarbeiter auszusuchen,
obwohl auch nicht ein simpler Schreiber existierte, der nicht dem Präsidenten
persönlich die Ernennung zu verdanken hatte.
*
Da hat man hier ein schönes Schlagwort geprägt. Die Argentinier selber haben
es getan, also darf wohl der Ausländer wiederholen: das Schlagwort von der
Mentira Criolla. (Wörtlich: „Die Lüge der Einheimischen".) Schreibt z. B. „Cri-
tica", daß sie im letzten Monat eine Tagesauflage von 100000 Exemplaren gehabt
hätte, so findet man am nächsten Tage die gleiche Notiz im gegnerischen Blatt,
aber mit dem Titel „Mentira criolla". Schreibt Irigoyen, daß er in seinem ganzen
Leben niemals jemandem auch nur das geringste Böse zugefügt hätte, so wieder-
holt dies fast die gesamte Presse des Landes mit dem vernichtenden Titel. Solch
eine Mentira criolla ist die Behauptung, daß die Polizei von B. Aires die erste der
Welt sei, wie sie das selber auszuposaunen sich erkühnt. Würde sie sagen: die
teuerste der Welt, dann ginge es noch. Denn teuer ist sie, weiß Gott. An Gehältern
einerseits, aber das ist das Wenigste. Viel teurer sind die coimas, auf Deutsch etwa
Schmiergelder. Albert Londres, in seinem Buch über den Mädchenhandel, hat ein
paar unvollkommene Beispiele gegeben.
Mädchenhandel und Zuhälterei bilden tatsächlich eine der Haupteinnahme-
quellen, eine der sichersten und pünktlichsten. Die Taxe ist meist fest etabliert.
Dafür erfreuen sie sich natürlich der löblichen Protektion der wohllöblichen
Polizeibehörde. Kein Verein zur Bekämpfung, kein Einspruch eines Gesandten
kommt dagegen auf; kein Schutz der Jugendlichen ist möglich, denn die Polizei
selbst stellt so manchesmal gefälschte Dokumente aus, die die Volljährigkeit der
Mädchenhändler-Opfer bestätigen. Ist es zufällig einer privaten Institution ge-
glückt, das Schlupfnest des „Kaftens" ausfindig zu machen, dann ist eins gegen
tausend zu wetten, daß die Polizei ihren Schützling rechtzeitig avisiert, so daß der
Vogel mit seiner Beute längst ausgeflogen ist, wenn offiziell eingeschritten wird.
Dafür haben „Kaftens" und „Souteneurs" ihren Klub, ihre Lokale, ihre Rechts-
anwälte und ihre polizeilichen Freunde, die jüdischen Louis sogar ihren eigenen
Friedhof, da die anständigen Juden ihnen nicht einmal auf dem Friedhof einen
Platz gewähren.
Aber die „Frauenfrage" ist nur eine der reichlichen Einnahmequellen. Eine
andere sind die „heimlichen" Spielhöllen, deren es im Zentrum allein eine Unzahl
gibt, und die auch regelmäßig blechen, um ungeschoren zu bleiben. Eine dritte ist
die ^uiniela, das ist ein eigenartiges, natürlich streng verbotenes Hasardspiel.
Man spielt es im Anschluß an die offiziellen Lotterien. Und da es diese fast jeden
Tag gibt, so spielt man eben jede Woche vier- bis fünfmal. Das Verbot ist derart
streng, daß jedes Kind in jeder Stadt und jedem Dorf die Häuser kennt (Zigaretten-
geschäfte, Friseure usw.), in denen man solche Wetten annimmt. Nur die Polizei
„ignoriert" die Lokale...
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