Leitfaden für Emigranten
Von
Helene Eliat
Ein napoleonischer Offizier, der später in die Dienste der Bourbonen trat,
wurde nach den Gründen seiner Untreue gefragt. Er sagte: „Ich habe fünf
Gründe: eine Frau und vier Kinder."
Es gibt Emigranten, die wandern um ihrer Kinder willen aus, sie wollen der
jungen Brut den Lebenskampf erleichtern.
Andere wiederum folgen der entgegengesetzten Gedankenführung. Sie
sagen: wir sind allein, ohne Anhang und Verpflichtung, wir dürfen uns einem
neuen Leben ausliefrrn, wir schädigen niemanden, wenn es mißlingt.
So bedeutet den einen die Auswanderung Wagnis, den anderen Sicherung.
Die Gefühle passen sich hier wie zumeist dem Bild an, das jeder in die Seele
seines Nächsten zu werfen wünscht. Um der Kinder willen darf man vorsichtig
sein, aber eine egoistische Handlung muß vom Glorienschein des Mutes über-
glänzt werden.
Es fragt sich nun: wieviel Mut gehört in jedem Fall zur Auswanderung, und
in welchem Verhältnis steht der Nutzen zum Aufwand an Kraft.
Eine Heimat ist eine Angstheimat. Wir leben in einer Zeit, da die Heimat nicht
wie früher sicheres Fundament des Privatlebens ist, sondern überall in das Privat-
leben eingreift. Das erschreckte Individuum, noch beschäftigt, den bereits er-
littenen Schaden auszugleichen, ersinnt in seiner Phantasie neu zu erwartende
Übergriffe, um ihnen begegnen zu können. Es kommt auf furchtbare Gedanken
und verzweifelt an seiner Anpassungsfähigkeit. Es wagt nicht mehr zu planen,
und gleichzeitig fühlt es sich von aller Lebenslust verlassen, denn wo gibt es noch
Lebensfreude, wenn die Sicherheit des Gewohnten aufhört und die Flucht in
die Zukunft von Aussichtslosigkeit versperrt ist.
Aber die Aussichtslosigkeit ist nicht nur in der Heimat.
Der historische Emigrant erhielt seine Lebensmöglichkeiten von dem Gastvolk.
Man hatte Interesse, Industrien zu verpflanzen. Stadtbewohner wurden gesucht
und gern angesiedelt. Heute sind die Industrien überfüllt, und als Boden bietet
man dem Fremden den Tanzboden. Die Völker der Erde unterscheiden sich
in ihrer Gastlichkeit nur, indem sie den Einwanderer gänzlich aussperren, oder
ihm, wie ein Hotelier, Unterkunft gewähren, keinesfalls aber darf das Entgelt
hierfür mit der für die Einheimischen gesicherten Arbeit erworben sein. Erst
Import der Subsistenzmittel gibt Aufenthaltsberechtigung. So verengert sich der
Kreis der Emigranten, wenn fast nur Kapitalbesitzende auswandern können, in
einem Augenblick, da das Interesse des Staates dahin geht, den Kapitalismus zu
vernichten, um der einzige Kapitalist zu bleiben. Unterdessen flüchtet das Privat-
kapital von einem Unterschlupf zum andern, verwandelt sich auf seinem Weg,
wie der Zauberer im Märchen; wird von der Ware zum Scheck, dann zu Gold,
wird nach neuen Alarmmeldungen zu Silber, Kupfer, Weizen; und überall erjagt
es der Fiskus mit neuen Gesetzen. Das ist schlimm für den Emigranten, denn
Geld und Geltung fallen bei ihm zusammen. Seine Persönlichkeit reicht so weit,
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Von
Helene Eliat
Ein napoleonischer Offizier, der später in die Dienste der Bourbonen trat,
wurde nach den Gründen seiner Untreue gefragt. Er sagte: „Ich habe fünf
Gründe: eine Frau und vier Kinder."
Es gibt Emigranten, die wandern um ihrer Kinder willen aus, sie wollen der
jungen Brut den Lebenskampf erleichtern.
Andere wiederum folgen der entgegengesetzten Gedankenführung. Sie
sagen: wir sind allein, ohne Anhang und Verpflichtung, wir dürfen uns einem
neuen Leben ausliefrrn, wir schädigen niemanden, wenn es mißlingt.
So bedeutet den einen die Auswanderung Wagnis, den anderen Sicherung.
Die Gefühle passen sich hier wie zumeist dem Bild an, das jeder in die Seele
seines Nächsten zu werfen wünscht. Um der Kinder willen darf man vorsichtig
sein, aber eine egoistische Handlung muß vom Glorienschein des Mutes über-
glänzt werden.
Es fragt sich nun: wieviel Mut gehört in jedem Fall zur Auswanderung, und
in welchem Verhältnis steht der Nutzen zum Aufwand an Kraft.
Eine Heimat ist eine Angstheimat. Wir leben in einer Zeit, da die Heimat nicht
wie früher sicheres Fundament des Privatlebens ist, sondern überall in das Privat-
leben eingreift. Das erschreckte Individuum, noch beschäftigt, den bereits er-
littenen Schaden auszugleichen, ersinnt in seiner Phantasie neu zu erwartende
Übergriffe, um ihnen begegnen zu können. Es kommt auf furchtbare Gedanken
und verzweifelt an seiner Anpassungsfähigkeit. Es wagt nicht mehr zu planen,
und gleichzeitig fühlt es sich von aller Lebenslust verlassen, denn wo gibt es noch
Lebensfreude, wenn die Sicherheit des Gewohnten aufhört und die Flucht in
die Zukunft von Aussichtslosigkeit versperrt ist.
Aber die Aussichtslosigkeit ist nicht nur in der Heimat.
Der historische Emigrant erhielt seine Lebensmöglichkeiten von dem Gastvolk.
Man hatte Interesse, Industrien zu verpflanzen. Stadtbewohner wurden gesucht
und gern angesiedelt. Heute sind die Industrien überfüllt, und als Boden bietet
man dem Fremden den Tanzboden. Die Völker der Erde unterscheiden sich
in ihrer Gastlichkeit nur, indem sie den Einwanderer gänzlich aussperren, oder
ihm, wie ein Hotelier, Unterkunft gewähren, keinesfalls aber darf das Entgelt
hierfür mit der für die Einheimischen gesicherten Arbeit erworben sein. Erst
Import der Subsistenzmittel gibt Aufenthaltsberechtigung. So verengert sich der
Kreis der Emigranten, wenn fast nur Kapitalbesitzende auswandern können, in
einem Augenblick, da das Interesse des Staates dahin geht, den Kapitalismus zu
vernichten, um der einzige Kapitalist zu bleiben. Unterdessen flüchtet das Privat-
kapital von einem Unterschlupf zum andern, verwandelt sich auf seinem Weg,
wie der Zauberer im Märchen; wird von der Ware zum Scheck, dann zu Gold,
wird nach neuen Alarmmeldungen zu Silber, Kupfer, Weizen; und überall erjagt
es der Fiskus mit neuen Gesetzen. Das ist schlimm für den Emigranten, denn
Geld und Geltung fallen bei ihm zusammen. Seine Persönlichkeit reicht so weit,
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