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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Stuckenschmidt, Hans Heinz: Panamerika komponiert
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0858
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betreibt in Paris die kühnste, voraussetzungsloseste kompositorische Versuchs-
station, von wenigen verstanden, von vielen ehrfürchtig beobachtet.
Zwei Neu-Engländer verdienen Interesse, merkwürdige Naturen von etwas
altfränkischer künstlerischer Haltung bei aller Radikalität der kompositorischen
Mittel. Der eine, Carl Ruggles, ist eine Schönberg verwandte Natur, mehr visionär
als spekulativ veranlagt, mit überwältigend persönlicher Klangfantasie begabt,
die in den herben „Portals" für Streichorchester, in den spukhaften Bildern des
symphonischen Ensembles „Men and Mountains", im „Sonnenläufer" nach
Robert Browning sich eigensinnig, genialisch und mit einer agressiven Innerlich-
keit mitteilt. Auch sprachlich erinnert Ruggles an Schönberg, obwohl er ihm
schulmäßig fernsteht.
Der andere, Charles E. Ives, ist mit seinen 58 Jahren fast ein Jahrzehnt älter
als Ruggles und der Senior der ganzen panamerikanischen Gruppe. Er gibt
seinen großen symphonischen Werken gern programmatische Erklärungen bei,
er hat national-folkloristischen Ehrgeiz und neigt einem stilisierenden Realismus
zu, der merkwürdigerweise in der Materialbehandlung zu ähnlichen Resultaten
führt wie die spekulative Art Cowells oder Vareses. Über den zweiten Satz seiner
IV. Symphonie, die dirigiertechnisch verzwickteste Partitur, die ich kenne,
schreibt er selbst: „Der zweite Satz ist kein Scherzo im üblichen Sinne des Worts,
sondern eher eine Komödie — • erregender, leichter, weltlicher Lebensweg wird
in Kontrast gesetzt mit den Prüfungen der Pilger auf ihrer Wanderung durch
sumpfige und unwirtliche Länder . .. Der Traum, die Fantasie endet mit einem
Einspruch der Wirklichkeit — dem Volksfest am 4. Juli, mit Blechmusik,
Trommelchören usw."
Das klingt straußisch, aber nur im Programm. Musikalisch hat es nichts mit
Strauß zu tun; eher mit Strawinsky oder Milhaud (wenn man 30 vH Amerika,
30 vH Innenleben und 30 vH persönliche Handschrift dazu rechnet).
Antheil, Copland und Sessions brauchen in Deutschland nicht vorgestellt
zu werden; sie sind die interessantesten, fortschrittlichsten, vielseitigsten Talente,
doch alle drei noch nicht zu einem eigentlichen Oeuvre gelangt. Für ihre Propa-
ganda sorgt teils eine literarische Schutztruppe, von der sich die Persönlichkeit
Ezra Pounds merklich abhebt, teils die Cos Cob Press mit ihren vorbildlichen
Drucken jung-amerikanischer Partituren, teils die von Minna Lederman virtuos
redigierte Quartalsschrift „Modern Music", das bestinformierte Spezialorgan
für neue Musik.
Von der Größe und Zielsicherheit dieser schöpferischen Bewegung macht
man sich in Europa keine Vorstellung. Überall tun sich Schulen, Gruppen,
Anhängerschaften zusammen; von Boston bis Florida, von Mexiko bis Seattle ist
die Kultur organisiert. Ein Katalog, den Claire Reis im Auftrag der Internationa]
Society for Contemporary Music herausgab, zählt neben 164 weniger wichtigen
55 wichtige Komponistennamen auf, darunter allerdings Herren älterer Schule
wie Carpenter, Chanler, Loeffler, Sowerby und Wetzler sowie die Gruppe
Achron, Bloch, Gruenberg, Saminsky. Bemerkenswert ist aber, daß (im Gegen-
satz zu Irving Berlin) der Jazzkomponist George Gershwin, Schöpfer der
Rhapsodie in Blue, für würdig befunden wird, in dieser Highbrow-Gesell-
schaft zu verkehren, die sonst Jazz kaum dem Namen nach zu kennen scheint.

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