Das Neue hat unwiderstehliche Reize nur für die Geister, die von dem
bloßen Wechsel ihre stärkste Anregung erwarten.
Das Beste an dem Neuen ist das, was einem alten Wunsche entspricht.
Das Leben des Menschen liegt eingeschlossen innerhalb von zwei
Literaturgattungen. Man fängt damit an, seine Wünsche zu schreiben, und
hört damit auf, seine Erinnerungen zu schreiben. Man wendet sich ab von
der Literatur und kehrt zu ihr zurück.
Der Schriftsteller: Er sagt immer mehr und weniger, als er denkt. Er
zieht ab von seinem Gedanken und fügt hinzu.
Was er schließlich schreibt, entspricht keinem tatsächlichen Gedanken.
Es ist reicher und weniger reich. Länger und kürzer. Klarer und dunkler.
Daher schildert derjenige, der einen Verfasser von seinem Werke aus
ableitet, notwendigerweise eine nur in seiner Vorstellung vorhandene Per-
sönlichkeit.
Schriftsteller: das sind solche, für die ein Satz kein unbewußter Vorgang
ist wie das Kauen und Schlucken eines eiligen Menschen, der kein Gefühl
für das hat, was er ißt.
*
Der Kritiker soll nicht Leser sein, sondern Zeuge eines Lesers, der ihn
beobachtet, sein Lesen und seine Gemütsbewegung. Die hauptsächliche
kritische Betätigung ist die Bestimmung des Lesers. Der Kritiker blickt
zu viel nach dem Verfasser hin. Sein Nutzen, sein Amt könnte sich durch
Winke folgender Art äußern: „Ich rate Personen dieser Veranlagung und
dieser Stimmung, dieses Buch zu lesen."
Das Bestreben eines wahren Kritikers müßte sein, ausfindig zu machen,
welche Aufgabe der Verfasser (ohne es zu wissen oder mit Wissen) sich
gestellt hat, und zu untersuchen, ob er sie gelöst hat oder nicht.
Das beste Werk ist jenes, das sein Geheimnis am längsten wahrt. Eine
lange Zeit hindurch ahnt man nicht einmal, daß es ein Geheimnis hat.
(Deutsch von Olga Sigall)
2
777
bloßen Wechsel ihre stärkste Anregung erwarten.
Das Beste an dem Neuen ist das, was einem alten Wunsche entspricht.
Das Leben des Menschen liegt eingeschlossen innerhalb von zwei
Literaturgattungen. Man fängt damit an, seine Wünsche zu schreiben, und
hört damit auf, seine Erinnerungen zu schreiben. Man wendet sich ab von
der Literatur und kehrt zu ihr zurück.
Der Schriftsteller: Er sagt immer mehr und weniger, als er denkt. Er
zieht ab von seinem Gedanken und fügt hinzu.
Was er schließlich schreibt, entspricht keinem tatsächlichen Gedanken.
Es ist reicher und weniger reich. Länger und kürzer. Klarer und dunkler.
Daher schildert derjenige, der einen Verfasser von seinem Werke aus
ableitet, notwendigerweise eine nur in seiner Vorstellung vorhandene Per-
sönlichkeit.
Schriftsteller: das sind solche, für die ein Satz kein unbewußter Vorgang
ist wie das Kauen und Schlucken eines eiligen Menschen, der kein Gefühl
für das hat, was er ißt.
*
Der Kritiker soll nicht Leser sein, sondern Zeuge eines Lesers, der ihn
beobachtet, sein Lesen und seine Gemütsbewegung. Die hauptsächliche
kritische Betätigung ist die Bestimmung des Lesers. Der Kritiker blickt
zu viel nach dem Verfasser hin. Sein Nutzen, sein Amt könnte sich durch
Winke folgender Art äußern: „Ich rate Personen dieser Veranlagung und
dieser Stimmung, dieses Buch zu lesen."
Das Bestreben eines wahren Kritikers müßte sein, ausfindig zu machen,
welche Aufgabe der Verfasser (ohne es zu wissen oder mit Wissen) sich
gestellt hat, und zu untersuchen, ob er sie gelöst hat oder nicht.
Das beste Werk ist jenes, das sein Geheimnis am längsten wahrt. Eine
lange Zeit hindurch ahnt man nicht einmal, daß es ein Geheimnis hat.
(Deutsch von Olga Sigall)
2
777