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Raphael, Max
Von Monet zu Picasso: Grundzüge einer Ästhetik und Entwicklung der modernen Malerei — München: Delphin-Verlag, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.70532#0062
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Die Eroberung des neuen Lebensgefühles

alle Substanz wegschwemmte, sondern jedes Ding der Realität von sich aus
bestimmte, formte, bildete. Dieses Absolute war der ewige Fluß, die große
Bewegung von der Amöbe zum Menschen und zum Übermenschen, von der
Materie zum Geist; war das Geschick, dem der Einzelne nicht nur unter-
worfen, nein, aus dem er gebildet war. „L’homme est le produit du soleil.“
(Geffroy). Dieser kontinuierliche Strom, diese absolut gewordene Zeit hat
schöpferische Kraft und der Einzelne war ihr Produkt. Wegen dieser Im-
manenz konnte man rückwärts „in jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit
seines Sinnes finden“. (Simmel) Und so stellt sich das Verhältnis zwischen
Mensch (und Gegenstand überhaupt) und diesem unpersönlichen Gesetz so
her, daß alle geistig-schöpferischen Fähigkeiten nivelliert, die Momente
aber, die früher nur als dieselben beeinflussend galten, in dem Gesetz
verabsolutiert werden. Hierin liegt der Sinn des Kampfes gegen den
Willen, das Bewußtsein und die Transzendenz von Subjekt und Objekt,
hier die Wurzel von Flauberts Romanen, der Taineschen Kunstlehre,
der Machschen Philosophie wie der impressionistischen Malerei. Für diese
bedeutet es nach einer radikalen Befreiung von allem-formalen Vorwissen
um die Dinge, nach aller Ausschaltung fixierter Vorstellungsbegriffe und
traditioneller Gewohnheiten eine Auflösung des Gegenstandes sowohl in
seiner geschlossenen Form wie in seiner Eigenbedeutung in die Atmo-
sphäre, die Aufhebung der Materialbegriffe z. B. der Lokalfarbe, der Linie,
der dreidimensionalen Form in eine Relation zum Licht, ein Betonen der
Erscheinung und ein Fortrücken derselben in die Ferne, die Beseitigung
des Raumes als einer anschaulichen Kategorie. Farbe, Form, Raum, alles
war nur Empfindung, d. h. eine in ihrer Einmaligkeit besondere Erschei-
nungsform des Gesetzes; und die Wahrnehmung überliefert sie uns in
ihrem ganzen Sinn und Wesen.
Dieser Akt der reinen Wahrnehmung hatte nicht nur seine besonderen
Funktionsglieder, sondern auch seine besondere Art der Stellungnahme.
Vor allem war er dadurch gekennzeichnet, daß er mehr ein reaktiver als
ein aktiver war, mehr Gegenbewegung als Eigenbewegung. Und als Re-
aktion bedeutete er eine passive Hingabe an die Objekte, ein feminin-
hinschmelzendes Sich-befruchten-lassen, ein Aufgehen im Objekt; und
zugleich ein schnelles, sofortiges Reagieren nach der Befruchtung, ein
unmittelbares Folgenlassen des Tuns auf den Eindruck, ohne daß die Er-
innerung an früheres, ein Kombinieren mit ähnlichem oder entgegenge-
setztem dazwischen trat. Aus diesem Festhaltenwollen des vorübereilen-
 
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