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Raphael, Max
Von Monet zu Picasso: Grundzüge einer Ästhetik und Entwicklung der modernen Malerei — München: Delphin-Verlag, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.70532#0125
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Der Expressionismus

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tung kommen kann. Freilich die reine Mannigfaltigkeit des Inhalts ist
nicht geringer geworden. Dem Gefühle nach ein Gemisch aus Lyrik und
Pathos, inhaltlich-stofflich eine Skala von den niedrigsten Instinkten zu my-
stisch-somnambuler G eistigkeit, vergrößert diese Mannigfaltigkeit die Will-
kür. Aus der Mystik, d. h. der außerkausalen Beziehung des Menschen
zum Absoluten, ist Telepathie geworden, d. h. das Problem außerkausaler
Beziehungen zwischen wahlverwandten Menschen. Aus der alles gebären-
den Macht des Sexus ist eine banaleFünfgroschendirnen- und Kabarett-Sinn-
lichkeit geworden, die mit der neuen Mystik die völlig abstruse Sonder-
existenz in der Empfindung des Malers teilt. Der neuen Tendenz zum We-
sentlichen haften zwei Merkmale an, die sie jeder ähnlichen Tendenz frü-
herer Zeiten entgegengesetzt sein lassen: die völlige Individualisierung,
Absonderung des Erlebnisses und die völlige Häßlichkeit der stofflichen
Gestalt. Wenn man solche Banalitäten zum höchsten Ausdruck forciert,
diesen minimalen Gehalt zu Tode hetzt, so ist das Zeichen eines zweifel-
haften geistigen Geschmackes.
Es ist offenbar, daß wir im Verhältnis zum Impressionismus einen völlig
anders gearteten Persönlichkeitstypus vor uns haben. Die Spanne einer Gene-
ration, die die beiden Geschlechter trennt, hat eine scheinbar typische Ver-
änderung hervorgerufen. Denn wenn nicht alles täuscht, ist die Differenz
dieselbe wie die zwischen den Künstlern der letzten Generation des Quattro-
cento und der ersten des Cinquecento, die uns Wölfflin in so unnachahm-
licher Klarheit geschildert hat. Mit denselben formalen Ausdrücken könnte
die Entwicklung der Moderne bezeichnet werden: die stärkere und erschöp-
fende Inanspruchnahme des Mittels, die größere Klärung der Flächen-Raum-
beziehungen, die stärkere Schließung der Bildform, die andere, stärkere Inte-
grierung des Teiles ins Ganze, die Klärung und Vereinfachung der optischen
Vorstellungen überhaupt. Nur muß man sich hüten, diese Wesensdifferenz
in eine Differenz der Wertungsgrade, in einen Entwicklungsfortschritt zu
verwandeln. Wie groß die Anstrengung und die Leistung eines Matisse auch
gewesen sein mag, ehe er zu seiner Einfachheit kam, ich stehe nicht an,
Renoir den größeren Künstler zu nennen, ebenso wie Mantegna, Signorelli
oder Botticelli dem Raffael oder Andrea del Sarto überlegen sind. Es han-
delt sich um zwei verschiedene Gestaltungsarten, die beide gleichweit von
der absoluten Gestaltung entfernt bleiben und unter sich keinen anderen
Wertungsvergleich zulassen als den der Persönlichkeitsstärke. Wenn jene
von Leonardo erreicht wurde, so ist das Verhältnis Raffaels und Sartos histo-
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