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Raphael, Max
Von Monet zu Picasso: Grundzüge einer Ästhetik und Entwicklung der modernen Malerei — München: Delphin-Verlag, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.70532#0137
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Picasso

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Umriß. Diese Art zu zeichnen, die Festigkeit und Steilheit der Linien, das
enge Umgrenzen erinnert uns an persische Miniaturen, während die Pro-
portionen ganz in die Schlankheit gotischen Strebens gehoben sind. Be-
deutsam ist, daß die Linie trotz ihrer schmalen Konturhaftigkeit unver-
kennbare Lichtwerte bei sich führt. Diese Einheit von Licht und Linie
will von vornherein als Eigenart Picassos bemerkt sein. Man könnte auch
von der Farbe sagen, daß in ihrer Reduktion auf eine einzige: blau oder
rosa keine Abstraktion zu sehen ist, weil sie überall von unterirdischem
Leben zittert. Mit diesen einfachen und doch von warmem und intimem
Leben erfüllten Mitteln weiß Picasso seinen Erlebnissen eine Form zu
geben, die man schon auf diesen frühen Werken als bildhafte Notwendig-
keit charakterisieren möchte. Überall sind wir festgehalten von einer
Aufteilung der Fläche, die etwas Klingendes hat, von einem Rhythmus,
der schlechthin spricht. Dabei ist es typisch für Picasso, daß er in der
Breitenabwicklung des Rhythmus fast immer mit einem unbetonten Teil
beginnt und schließt, in der Höhenabwicklung hingegen betont beginnt,
mit einer Leere schließt. Dadurch bekommen alle diese Menschen ein
Festes und Abgetrenntes zugleich, ein Wurzeln im Grund und ein Schwan-
ken in der Luft, im Dunkeln, im Leeren.
Seit etwa 1907 beginnt Picasso unter einer großen Krise diese schein-
bar schon vollendete und allen Werken der Zeitgenossen überlegene Welt
zu stürzen und unter allmählichem aber rastlosem Suchen eine neue Welt
aufzubauen. Er fand vielleicht, daß das Einmalige des Psychischen ebenso
willkürlich sei wie das der Natur; daß selbst so unerhört feine seelische Er-
lebnisse zu reproduzieren, nicht der Sinn der Kunst sein konnte. Der schöp-
ferische Trieb mußte Neues produzieren, das Psyche von sich aus als Komplex
nie hätte bilden können. Das innere Erleben mußte kontrolliert, ausgewählt,
' zusammengeballt werden; die Gleichberechtigung jedes Erlebnismomentes
aufgehoben werden in ein Gesetz ihres Ablaufes. Er ahnte die ungeheuere
Perspektive: Malerei ist die plastische Gestaltung von Gesetzen psychischen
Erlebens. In dem Maße als ihm die im künstlerischen Triebe liegende Ten-
denz zur absoluten Gestaltung bewußt wurde, sah er ein, daß seine Kunst
auf schwankendem Boden stand; daß er zwar wohlklingend und rhyth-
misch gesprochen, gesungen, aber nicht gestaltet hatte. An diesem schwin-
delnden Abgrund begann er, den Mystiker in sich zu hassen, und schrieb
über das Tor seines neuen Lebens das unmystische Wort des schöpferi-
schen Menschen: Der Wille zur Notwendigkeit.
 
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