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Kurt Rathe
unklärt: sie besteht nach meinem Dafürhalten vornehmlich darin,
daß sich der physisch bedrohte Beschauer auch seelisch „getroffen“
fühlen und zur mitleidenden Teilnahme an der Golgatha-Szene auf-
gestachelt werden soll. Auf einem Kupferstich der Sebastians-
Marter vom Meister E. S. (L. 157, Abb. 18) duldet die Be-
rechtigung einer derartigen Auffassung keinen Zweifel mehr, da
hier die Figur des nicht auf den Heiligen, sondern auf den Be-
schauer anlegenden Armbrusters auf dem ansteigenden Terrain
etwas oberhalb des Mittelgrundes klar und deutlich genug hervor-
tritt, um. das erlebnismäßige Ich des Beschauers unmittelbar in
die Bildsphäre einzubeziehen: „Es geht mich an, es geht jeden an,
tua res agitur“ — auf diese Weise vermag das Gestaltungsprinzip
der orthogonalen Verkürzung den ersten und letzten Sinn des
christlichen Martyriums und seiner Heilsbotschaft zu verkünden.
Auf einem Bilde des Schweizers Hans Fries ddo. 1501
(Abb. 19)37) wird eine ähnliche Wirkung nebenher auch noch durch
die Rücksichtslosigkeit erzielt — und zwar im Wortsinne „erzielt“ —,
mit der der Armbrustschütze im Turban die Schußlinie des
links von ihm befindlichen Bogenschützen durchschneidet; es mag
zugleich zeigen, wie schwer sich eine derartige Figur dem Bild-
Organismus einfügt. In der einmal erkannten Aussichtslosigkeit
verwandter Bemühungen liegt denn wohl auch einer der Gründe,
aus denen der zeitgenössische Maler eines wenig bekannten „Ursula-
Martyriums“ in der Kirche St. Johann zu Karnol bei Brixen38)
offenbar nur allzugern von Anbeginn darauf verzichtet, den fa-
talen Einzelgänger dem aus dem harten Aneinandergeraten von
Bedrängern und Bedrängten erwachsenden Figuren-Konglomerat
irgendwie einzugliedern: der eigenwillige Gesell hat auf einem
exponierten Punkte des Vordergrundes links von der Hauptgruppe
des Freskogemäldes Stellung gefaßt, um von der Apsiswölbung
herab einen beliebigen Andächtigen aufs Korn zu nehmen.
Man wende nicht ein, daß die den Beschauer beunruhigende, auf-
peitschende Wirkung der orthogonal verkürzten Schützenfigur vom
Schlage des Erlanger Typus in allzu hohem Maße von seiner ge-
fährlichen Hantierung, also von der Inhalts-Qualität, abhängig
sei; man braucht sich ja nur eine F rontalfigur vorzustellen,
die mit beiden Händen einen Schalltrichter formt — und
ihr Ruf wird zur unentrinnbaren Pein eines Lautsprechers an-
schwellen: ein Effekt, den sich zum Beispiel das Künstler-Plakat
unserer Tage begreiflicherweise gerne zu eigen gemacht hat.39)
Gemäß einer analogen Entsprechung wird sich daher auch bei
Kurt Rathe
unklärt: sie besteht nach meinem Dafürhalten vornehmlich darin,
daß sich der physisch bedrohte Beschauer auch seelisch „getroffen“
fühlen und zur mitleidenden Teilnahme an der Golgatha-Szene auf-
gestachelt werden soll. Auf einem Kupferstich der Sebastians-
Marter vom Meister E. S. (L. 157, Abb. 18) duldet die Be-
rechtigung einer derartigen Auffassung keinen Zweifel mehr, da
hier die Figur des nicht auf den Heiligen, sondern auf den Be-
schauer anlegenden Armbrusters auf dem ansteigenden Terrain
etwas oberhalb des Mittelgrundes klar und deutlich genug hervor-
tritt, um. das erlebnismäßige Ich des Beschauers unmittelbar in
die Bildsphäre einzubeziehen: „Es geht mich an, es geht jeden an,
tua res agitur“ — auf diese Weise vermag das Gestaltungsprinzip
der orthogonalen Verkürzung den ersten und letzten Sinn des
christlichen Martyriums und seiner Heilsbotschaft zu verkünden.
Auf einem Bilde des Schweizers Hans Fries ddo. 1501
(Abb. 19)37) wird eine ähnliche Wirkung nebenher auch noch durch
die Rücksichtslosigkeit erzielt — und zwar im Wortsinne „erzielt“ —,
mit der der Armbrustschütze im Turban die Schußlinie des
links von ihm befindlichen Bogenschützen durchschneidet; es mag
zugleich zeigen, wie schwer sich eine derartige Figur dem Bild-
Organismus einfügt. In der einmal erkannten Aussichtslosigkeit
verwandter Bemühungen liegt denn wohl auch einer der Gründe,
aus denen der zeitgenössische Maler eines wenig bekannten „Ursula-
Martyriums“ in der Kirche St. Johann zu Karnol bei Brixen38)
offenbar nur allzugern von Anbeginn darauf verzichtet, den fa-
talen Einzelgänger dem aus dem harten Aneinandergeraten von
Bedrängern und Bedrängten erwachsenden Figuren-Konglomerat
irgendwie einzugliedern: der eigenwillige Gesell hat auf einem
exponierten Punkte des Vordergrundes links von der Hauptgruppe
des Freskogemäldes Stellung gefaßt, um von der Apsiswölbung
herab einen beliebigen Andächtigen aufs Korn zu nehmen.
Man wende nicht ein, daß die den Beschauer beunruhigende, auf-
peitschende Wirkung der orthogonal verkürzten Schützenfigur vom
Schlage des Erlanger Typus in allzu hohem Maße von seiner ge-
fährlichen Hantierung, also von der Inhalts-Qualität, abhängig
sei; man braucht sich ja nur eine F rontalfigur vorzustellen,
die mit beiden Händen einen Schalltrichter formt — und
ihr Ruf wird zur unentrinnbaren Pein eines Lautsprechers an-
schwellen: ein Effekt, den sich zum Beispiel das Künstler-Plakat
unserer Tage begreiflicherweise gerne zu eigen gemacht hat.39)
Gemäß einer analogen Entsprechung wird sich daher auch bei