Die Aiisdrucksfunktion extrem verkürzter Figuren
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einer dem Erlanger Armbrustschützen formal völlig angenäherten
Figur des großen Landshuter Bildschnitzers Hans Leinberger,
bei der die orthogonale Verkürzung lediglich dem Ausdruck einer
Gemütsbewegung dient, im Rahmen eines Kreuzigungs-Reliefs
von 1516 (Abb. 20) abermals die Wirkung jenes E. S.-Stiches ein-
stellen: Der grimassierende Scherge vermag ja die ohnmächtige
Muttergottes gar nicht zu treffen; er schneidet uns seine Fratze,
wir fühlen uns beleidigt, in Mitleidenschaft gezogen.10)
Wenn die Untersuchung nach dieser methodologisch gebotenen
Abschweifung zur Typen-Reihe des Armbrustschützen zurückkehrt,
wird zunächst die Beobachtung lehrreich, daß die ahnenstolze Sippe
unter der Herrschaft von Manierismus und Frühbarock mit stili-
stisch veränderten Vorzeichen noch einmal die von der perspektivi-
schen Bravourleistung zur exemplarischen Ausdrucksfunktion empor-
klimmende Laufbahn ihrer spätmittelalterlichen Vorfahren durch-
mißt. Zum einen hätte vornehmlich die niederländische Kunst von
der Wende des 16. Jahrhunderts durch eine größere Anzahl gra-
phischer Blätter die Abwertung des Ausdrucksgehaltes zu ver-
anschaulichen, wie sie die Paarung virtuosenhafter und genre-
mäßiger Züge mit sich bringt;11) während eine zeitlich zurück-
liegende schweizerische Federzeichnung aus der Richtung Tobias
Stimmers (?) eine ansonsten so inhaltsschwere Gebarung sogar in
die Sphäre des Kunstgewerblichen abgleiten läßt,12) muß sich zum
andern mit derselben Sicherheit in dem Augenblicke, da der sym-
bolische Charakter des Gestaltungsprinzips mit dem des Darstel-
lungsobjektes zusammentrifft, eine letzte und höchste Steigerung
des Ausdruckswertes ergeben: und zwar am ehesten dann, wenn
eine Gestalt von einer so gewaltigen Symbolkraft wie der Tod, der
ja schon in Miniaturen des italienischen Trecento pfeilbewehrt auf-
tritt und weiterhin auf dem (katalanischen) „Trionfo della rnorte“
zu Palermo das Menschengeschlecht als Skelettreiter mit Bogen und
Pfeil ausrottet, in der orthogonalen Verkürzung des Erlanger Arm-
brusters erscheint. Auf einem Stiche aus dem Architektur-Werk
des vielseitigen und phantasiereichen Straßburger Dekorations-
malers Wendelin Dietterlin (Abb. 21), der mit allegorischen
Figuren aller Art überladen ist,13) soll jetzt und hier lediglich die
Mittelgruppe über dem Portal ins Auge gefaßt werden, in der meines
Erachtens nicht nur die Sinndeutung dieser einen Spielart der
orthogonalen Figurenprojektion, sondern die der ganzen Gattung
kulminiert: Der Allbezwinger Tod und der ihm gegenüber nach
Verlust seiner Waffen zur Hilflosigkeit eines Menschenkindes ver-
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einer dem Erlanger Armbrustschützen formal völlig angenäherten
Figur des großen Landshuter Bildschnitzers Hans Leinberger,
bei der die orthogonale Verkürzung lediglich dem Ausdruck einer
Gemütsbewegung dient, im Rahmen eines Kreuzigungs-Reliefs
von 1516 (Abb. 20) abermals die Wirkung jenes E. S.-Stiches ein-
stellen: Der grimassierende Scherge vermag ja die ohnmächtige
Muttergottes gar nicht zu treffen; er schneidet uns seine Fratze,
wir fühlen uns beleidigt, in Mitleidenschaft gezogen.10)
Wenn die Untersuchung nach dieser methodologisch gebotenen
Abschweifung zur Typen-Reihe des Armbrustschützen zurückkehrt,
wird zunächst die Beobachtung lehrreich, daß die ahnenstolze Sippe
unter der Herrschaft von Manierismus und Frühbarock mit stili-
stisch veränderten Vorzeichen noch einmal die von der perspektivi-
schen Bravourleistung zur exemplarischen Ausdrucksfunktion empor-
klimmende Laufbahn ihrer spätmittelalterlichen Vorfahren durch-
mißt. Zum einen hätte vornehmlich die niederländische Kunst von
der Wende des 16. Jahrhunderts durch eine größere Anzahl gra-
phischer Blätter die Abwertung des Ausdrucksgehaltes zu ver-
anschaulichen, wie sie die Paarung virtuosenhafter und genre-
mäßiger Züge mit sich bringt;11) während eine zeitlich zurück-
liegende schweizerische Federzeichnung aus der Richtung Tobias
Stimmers (?) eine ansonsten so inhaltsschwere Gebarung sogar in
die Sphäre des Kunstgewerblichen abgleiten läßt,12) muß sich zum
andern mit derselben Sicherheit in dem Augenblicke, da der sym-
bolische Charakter des Gestaltungsprinzips mit dem des Darstel-
lungsobjektes zusammentrifft, eine letzte und höchste Steigerung
des Ausdruckswertes ergeben: und zwar am ehesten dann, wenn
eine Gestalt von einer so gewaltigen Symbolkraft wie der Tod, der
ja schon in Miniaturen des italienischen Trecento pfeilbewehrt auf-
tritt und weiterhin auf dem (katalanischen) „Trionfo della rnorte“
zu Palermo das Menschengeschlecht als Skelettreiter mit Bogen und
Pfeil ausrottet, in der orthogonalen Verkürzung des Erlanger Arm-
brusters erscheint. Auf einem Stiche aus dem Architektur-Werk
des vielseitigen und phantasiereichen Straßburger Dekorations-
malers Wendelin Dietterlin (Abb. 21), der mit allegorischen
Figuren aller Art überladen ist,13) soll jetzt und hier lediglich die
Mittelgruppe über dem Portal ins Auge gefaßt werden, in der meines
Erachtens nicht nur die Sinndeutung dieser einen Spielart der
orthogonalen Figurenprojektion, sondern die der ganzen Gattung
kulminiert: Der Allbezwinger Tod und der ihm gegenüber nach
Verlust seiner Waffen zur Hilflosigkeit eines Menschenkindes ver-