Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

DOI article:
Servaes, Franz: Aus Wien, [7]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0070
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ihrer eigenen Kräfte blieben sie sich trotzdem
nicht immer voll bewufst. Bevor sie springen
und gehen konnten, wollten sie manchmal schon
fliegen lernen, und nur die grofse Geschmacks-
kultur, welche als zügelndes und zugleich heimat-
liches Moment hinzutrat, bewahrte sie vor
ärgeren Mifsgriffen.
Auf diese geschmackliche Seite wird sodann
ein besonderer Nachdruck zu legen sein. Viel-
fach ersetzt der Wiener, was ihm an Kraft und
Ursprünglichkeit der Naturerfahrung fehlt, durch
die lebendige Sicherheit seiner Geschmacks-
bildung. Vielleicht war man ja gerade deshalb
in Wien so spät in die moderne Kulturbewegung
eingetreten, weil man mit alter Kultur, d. i. mit
einer sicher wirkenden Tradition, zu sehr erfüllt
und durchsättigt war. Man war so lange beim
alten geblieben, weil man ein wirkliches Genügen
daran fand; aber nicht blofs deshalb, sondern
auch, weil man das Neue als roh, absurd und
pietätlos verwarf. Somit war ein etwaiger Sieg
des Neuen in Wien von vornherein an die
Voraussetzung gebunden, dafs es sich stark
genug erwiese zu schönheitlicher Tendenz, dafs
es also nicht mit der umstürzlerischen Wucht
verneinender Naturvölker (wie etwa der Skan-
dinavier und Russen) aufträte, sondern, bei aller
Neuheit der Ziele, doch mit der dressierten
Kraft und anmutvollen Selbstbescheidung be-
wufster Kulturmenschen sich einführte. Diese
Bedingung war gegeben, und sie wurde erfüllt.
Das erfinderische Geschmacksvermögen der
jungen Künstler entschied hier den Sieg. Natur-
gemäfs ging es ohne heftige Kämpfe und
wütendes Sichsperren nicht ab. Aber der Punkt
war doch gefunden, an dem man sicher ein-
haken konnte. Zuerst gewann man wenige,
dann, rasch anwachsend, einen grofsen Teil der
Frauen und damit der Familien, und so sickerte
die neue Formenanschauung immer mehr ins
Leben über, an alle Bedürfnisse sich wendend,
allen Bequemlichkeiten dienend, unausgesproche-
nen und unbewufsten Wünschen gehorsam
und feinfühlig nachspürend und zuvorkommend.
Heute, kann man sagen, ist in Wien alles in
Umformung begriffen und eine entschiedene
Geschmacksaufklärung sucht alten wie neuen
Verirrungen zu steuern. Während dem wahr-
haft guten Alten ein erhöhter Antiquitätswert
beigelegt wird, wird zugleich eifrig dafür Propa-
ganda gemacht, dafs sich unser neues Leben
auch mit neuen Formen selbstthätig schmücke.
So vollzog sich während der letzten vier,
fünf Jahre jener grofse Aufschwung innerhalb
des Wiener Kunstgewerbes, der heute bereits
eine geschichtliche Thatsache ist. Die Sezession
hat daran vor allen anderen Anteil genommen;
sie ist und bleibt der Herd dieser Bestrebungen.
Mögen die Leistungen auf dem Gebiete der
Malerei und Skulptur im ganzen blofs zweiten
Grades, weil in der Hauptsache abgeleiteter

Natur sein, so sind ihre Errungenschaften auf
dem Gebiete der angewandten Kunst und zum
Teil auch der Architektur zweifellos ersten
Grades, weil hier eine eigene und keimkräftige
künstlerische Willensrichtung sich mit Ent-
schiedenheit Bahn brach. Naturgemäfs wird
man auch hier geschichtliche Voraussetzungen
nachweisen und einerseits auf das moderne
England und Belgien, anderseits auf den alt-
einheimischen Kongrefs- und Biedermeierstil
hindeuten können. Da aber jedes Kind bekannt-
lich seine Eltern hat, in denen seine Eigenart
andeutungsweise vorgebildet ist, so auch das
moderne Wiener Kunstgewerbe. Und es ist
darum keinerlei Herabsetzung oder Verkleinerung,
wenn man auf seine Ursprungsquellen hinweist.
Aus diesen Quellen hat es sich zum eigenen,
stark und anmutig fliefsenden Strome heraus
entwickelt.
Eine besondere Gunst des Schicksals ist es,
dafs die jetzige Blüte des Wiener Kunstgewerbes
vorwiegend auf Architekten zurückgeht. Darin
beruht sein, trotz aller spielerischen Grazie,
doch ernster und konstruktiver Sinn. Merk-
würdigerweise ist der Mann, der den Anstofs
gab, alles andere eher als ein Geschmacks-
künstler, der Oberbaurat Otto Wagner, aus dessen
Schule die tonangebenden jüngeren Künstler,-
die Olbrich, Hoffmann, Moser, Bauer hervor-
gingen. Dafür ist Otto Wagner der Mann des
impulsiven Willens und des kühnen modernen
Gedankens. Ganz aus Altem hervorgegangen,
hat er doch die Brücken zum Alten radikaler
hinter sich abgebrochen, als irgend ein Anderer.
So wirkte er von vornherein als entschlossene
und zielgebende Persönlichkeit, und die Jüngeren
hatten ganz einfach das in die That umzusetzen,
was bei ihm als Antrieb hervorgebrochen war.
Während nun Wagner selbst sich fast ganz
auf die hohe Architektur beschränkte, haben
seine Schüler und Jünger es verstanden, den
Typus des modernen Wohnhauses bis in die
kleinsten Details der inneren Einrichtung mit
neuem künstlerischem Leben zu erfüllen. Was
hier geleistet worden ist, das wird freilich auf
keiner „Ausstellung“ je gezeigt werden können.
Das kann man nur von Fall zu Fall an Ort und
Stelle studieren. Auch was Olbrich in Darm-
stadt geleistet hat, giebt nur ein unvollständiges
Bild dessen, was die neuwiener Schule vermag.
Vor allem ist doch Olbrich nur einer für sich,
wenn auch ein Starker, Erfindungsreicher. Aber
ganz falsch wäre es, aus seinem persönlichen
Stil nun sozusagen den „Wiener“ Stil heraus-
destillieren zu wollen. Das wäre eine Ungerech-
tigkeit nach zwei Seiten hin, sowohl gegen Olbrich
als gegen seine durchaus selbständigen Mitstreben-
den. Auf nähere stilistische Unterschiede kann
hier natürlich nicht eingegangen werden.
Die Hauptsache aber ist, dafs die neu in-
augurierte Blüte der Wiener Kleinkunst durch

50
 
Annotationen