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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Schur, Ernst: Münchener Kunst: Käthe Kollwitz (Künstlerinnen-Verein), Carl Strahtmann (Kunst-Verein)
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0076
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Münchener Kunst.
Käthe Kollwitz (Künstlerinnen-Verein).
Carl Strahtmann (Kunst-Verein).
Zwei merkwürdige Talente, die hier durch Zufall zu-
sammenkommen! Bei denen zu verweilen wohl lohnt.
Man kann direkt — eigentlich nicht sagen warum.
Will man es umschreiben, so ist es eben dieses „Merk-
würdige“, was einen anzieht. Sie sind da, so wie sie sind;
aber man hat eigentlich garnicht in der Weise sofort die
Beziehung zu ihnen, wie es sonst der Fall ist. Das
reizt. Sie sind mit einer solchen „Sicherheit“, mit einer
solchen „Selbstverständlichkeit“ da, dass man sich empört,
nicht dicht an sie heranzukommen. Da schleicht sich
denn gern wieder ein Misstrauen ein; ohne ein feindliches
Gefühl zu haben, versucht man einen Mangel aufzu-
spüren, der eine Erklärung bringen soll, in der Erwartung,
auf diesem Wege durch das Dickicht hindurchzukommen.
Ich versprach mir viel von Frau
— Käthe Kollwitz —
und als nun eine Ausstellung in dem hiesigen Künst-
lerinnen-Verein eine zufällige Gelegenheit gab, mehr von
ihr zu sehen, fand ich eigentlich doch nicht das, was ich
für mich erwartet. Freilich ist zu bedenken, dass hier
doch wohl noch zu wenig herangezogen ist, um ein end-
gültiges Urteil begründen zu können. Gerade hier wäre
es - wie immer bei ausgesprochenen, in gewissem Sinn
abgerundeten und fertigen Talenten — unbedingt nötig,
frühere Sachen vergleichen zu können. Das Werden
dieses Talents einigermassen verfolgen zu können! Man
möchte wissen, wie diese Frau dazu kam, so temperament-
volle und doch so tote Linien zu geben, so zuckendes
Empfinden auf Gesichter zu werfen, die Menschen ange-
hören, die, vom Tode schon gekennzeichnet, nur als halbe
Leichen auf dieser Erde noch ein beinahe spukhaftes
Dasein führen. Gerade in dieser Richtung hatte ich
Tieferes, Vielseitigeres, Empfindungsechteres erwartet.
Dies glaube ich aber zu vermissen. Ist diese „Sachlich-
keit“, die zwischen Menzel und Goya liegt, die Frucht
einer übervollen Seele? Oder ein technischer Behelf,
eine Erkenntnis?

Gerade die graphische Kunst wäre so sehr geeignet,
einer Frau, die genug Eigenes besitzt, Gelegenheit zu
geben, uns von sich und ihrem Geschlecht zu erzählen,
sich ganz auszuschöpfen und damit einen Weg zu be-
schreiten, der so verlockend wäre, da er so ganz unbe-
gangen ist. Nicht zu konkurrieren gälte es mit schon
Vorhandenem, Geprägtem, sondern als Frau zu suchen.
Freilich ist das sehr schwer und es ist immerhin vielleicht
besser, man sieht tüchtige Sachen, die sich an den Geist
vorhandener Kunst anlehnen, als eine krampfhafte, auf-
geblasene Hascherei nach Neuem. Jedoch empfinde ich
diese Möglichkeit als wünschenswert und schön. Alle
Erscheinungen der Kunst sind männlichen Charakters,
oder wenn weiblicher Einfluss da war, so ging er doch
erst durch das männliche Auge; und wenn man selbst
hier noch sagen kann, dass trotzdem auch hier noch so
unendlich viel zu schöpfen und zu schaffen ist, dass unter
Millionen Möglichkeiten vielleicht hundert zur Offenbarung
gebracht sind, so begreift man, wie unendlich viel für ein
Kern- und Vollblutweib hier noch zu thun ist — voraus-
gesetzt, dass nicht jene Meinung die richtige ist, die von
vornherein die Möglichkeit künstlerischen Schaffens als
eines gesetzmässigen Mangels konstituiert. Doch ist das
noch unbewiesen und bleibt abzuwarten; und auf einem
Gebiet, wo so viel unter Schutt begraben liegt, ist es
wohl richtig, mit einem Urteil hintanzuhalten; (auch
dann noch könnte man sagen, dass eben diese ausge-
sprochene Eigenart der Rezeptivität jedenfalls doch auch
zur Erscheinung gebracht werden könnte). Wir haben
ungefähr, nach Jahrhunderten nun, eine Vorstellung da-
von, wie ein Mann sieht und das Gesehene mit irgend-
welchen Mitteln künstlerischer Art reproduziert. Nun

wünschen wir zu sehen, wie ein Weib sieht und das Ge-
sehene mit irgendwelchen Mitteln künstlerischer Art —
hier der graphischen Kunst — reproduziert. Freilich
müsste dies in ganz anderer Weise geschehen, als dies
von einer heutigen Modebewegung — deren Erzeugnisse
nicht höher zu werten sind als die der „Gartenlaube“ und
als solche nach einem kurzen Menschenalter auch erkannt
werden werden — besorgt wird, wo die Geschlechtsfrage
als die alleinseligmachende Lösung in den Vordergrund
gerückt wird. Diese letztere Frage ist in dem Ganzen, in
dem Glutball des Werdens, eine sehr nebensächliche
Frage und ausschliesslich Privatsache. Es ist eine von
den Fragen, deren Lösung leicht gelingt, wenn man recht
vorsichtig mit ihr umgeht und sie garnicht in Betracht
zieht, sie der Natur überlässt. Wird sie überhaupt erst
eine „Frage“, so zeigt sie nur ein verzerrtes Gesicht und
man lasse sie darum ruhen und sich selbst lösen. Jedem
ist sie mit auf den Weg gegeben, dass er grösser daran
werde und so oder so sie bezwinge oder sich bezwingen
lasse, und es ist eine Feigheit eine der vielen Feigheiten
unserer Zeit hiermit auf den Markt zu springen und
der Allgemeinheit eine Antwort abzufordern. Von einem
andern Standpunkte aus — wenn nämlich hier nicht so
viel verfahren wäre, müsste der Rat allerdings vielleicht
anders lauten. Aber so, wie es heute steht, ist es so am
besten. Es ist nur ein wenig „Härte“, ein wenig
„Sophrosyne“, ein wenig „Selbsterziehung“, ein wenig
wirkliche, echte „Arbeitsfreudigkeit“ nötig, und der Mensch
findet seinen Weg. Es charakterisiert unsere Zeit, dass
sie überall Fragen aufwirft, an Äusserlichkeiten sich
genügen lässt, wo sie den Kern: die Umschaffung und
Neu-Werdung des Menschen gern ignoriert, der All-
gemeinheit Dinge aufbürdet, zu deren Lösung sie zu
schwächlich ist. Es ist etwas ganz Verschiedenes: die
eine Frage ob zur Erklärung der heutigen, äusseren
und inneren Weltgeschehnisse und des Gewordenen der
Gesichtspunkt des Sexuellen die einzig richtige Notwendig-
keit abgiebt; es ist eine andere Frage, ob es so sein
sollte, so sein muss und anders nicht denkbar ist. Das
eine ist deskriptiv, historisch, rückschauend also im
Grunde unfruchtbar; das andere ahnend, versuchend,
reinigend, erneuernd, für die Zukunft also immer nur
fruchtbar.
* *
Wohl könnte man Frau Käthe Kollwitz die Lehrer
aufzählen, von denen sie gelernt; aber man käme ihr da-
durch nicht näher, und der Rest, der fraglos bleiben
würde, würde anzeigen, dass man ihr sicher damit Un-
recht thut, meint man sie damit zu erklären. Sie besitzt
technische Fertigkeit in hohem und reinem Grade. Ob
nun aber auch ein Mensch dahinter steckt, also im
ganzen ein echter Künstler in ihr zu vermuten ist, das
ist nicht zu entscheiden. Weiblich ist an ihr die Eigen-
schaft, krass zu sein; dass sie schreit, sechsmal unter-
streicht, wo die Thatsachen genügen. Dadurch erreicht
sie eine gewisse Rücksichtslosigkeit der Linie, eine
Gewaltsamkeit des Affekts, eine Eckigkeit und Gezwängt-
heit des Ausdrucks, die mit dem Stoff — Weberelend,
Revolution —■ zusammenfallend eine Vollendung erreicht,
die beinahe zu einem künstlerischen Glaubensbekenntnis
sich auswächst und daher unweigerlich verblüfft. Aller-
dings ist dies eben eine Vollendung, die einen Mangel
zugleich in sich trägt. Man glaubt zu fühlen, irgend
etwas ist da doch nicht richtig. Oder ist hieran nur die
Lückenhaftigkeit des Gebotenen schuld? Und ist Frau
Kollwitz mehr als eine sehr gute Schülerin? Ich komme
damit wieder auf den Ausgangspunkt zurück; es heisst
warten, bis mehr zu sehen ist, und dieses Talent erscheint
merkwürdig genug, diese Gelegenheit herbeizuwünschen.
Denn es liegt etwas merkwürdig Anziehendes in dieser
ernsten, rücksichtslosen Sachlichkeit, in dieser entsagenden,
verbissenen, wuchtigen Härte; Eigenschaften, deren Ver-
einigung über die dargestellte Wirklichkeit hinaus, die sie
erzählen und illustrieren, die Möglichkeit zu einer selt-
samen und spukhaften Phantastik anbahnt.

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