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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Neitzel, Otto: Klingers Beethoven vom Standpunkt des Musikers aus
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0483
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punkt aus zu richten sind. Sind dies nämlich
die Lockungen der Welt, denen sich Beethoven
zu entwinden trachtet, so sind die drei inneren
Kinderköpfe zu rührend und unschuldsvoll, be-
sonders das mittlere mit dem unsagbar keuschen
Kindsgesicht, als dafs nicht die Eck-Köpfe, zwei
reichlich frohsinnig gehaltene Frauenköpfe, allzu-
sehr dagegen abstechen, als dafs sie sich mit
ihnen zu einem Ganzen vermählten. Sind es aber
inspirierende Stimmen, so widerstreitet wieder
der Ausdruck der beiden Frauengesichter als zu
weltlich und obenhin lächelnd, gar dasjenige
rechts mit dem fast genrehaft erhobenen Zeige-
finger, dem Gesamtbilde Beethovens, der doch
auch in seinen Scherzi, seinen Humoresken zu
derb und starkknochig, ein wenig ungeschlacht
und eckig war, um solchen Bildern, wie diesen,
einen wesentlichen Anteil auf sein Seelen-
leben zu gestatten. Die Widersprüche und Ein-
wände vermindern sich keineswegs, wenn wir
die Rückseite des Sessels in Augenschein nehmen.
Zunächst die Flanken! Mufsten es gerade Adam
und Eva mit ihrem Sündenfall, auf der andern
Seite Tantalus mit einer eigens zu diesem Zweck
erschaffenen Tantalidin (in der griechischen
Sage ist Tantalus stets allein geblieben) sein,
die sich auf Beethovens Sessel niederliefsen?
Tantalus mit dem Nie-erreichen-können des
ihm vorschwebenden Genusses ist gewifs als
Sinnbild der „nie befriedigten Sehnens-Qual“, die
nicht lediglich in des verstümmelten Klingsor
Brust rumort, treffend gedacht, der Sündenfall als
Ausdruck des Fluches, der uns das einmal ver-
scherzte Paradies nur durch geduldige Seelen-
läuterung wiedergewinnen läfst, in dieser
Deutung nicht minder, aber beides ist gerade
für Beethoven doch etwas weit hergeholt und
wenigstens erst auf dem Umwege der Deutung,
wenn nicht der Deutelei mit ihm in Verbin-

dung zu bringen. Die Rückseite aber, welche
den Sieg des Christentums über das Heidentum
schildert, — oben Christus am Kreuz, ein wenig
unterhalb Johannes, der mit stürmisch unmutiger
Gebärde die ganz unten stehende Venus nebst
Kompanie zurückdonnert —, bildet hinsichtlich
der künstlerischen Gestaltung eigentlich ein
starkes Argument zu gunsten des Griechentums,
insofern die Trägerin des Lasters mit liebe-
vollster Sorgfalt und in schwellender Üppigkeit
aus dem Relief hervorspringt, während der
Erlöser sich mit einer andeutenden Skizzierung
begnügen mufs. Selbst der in seiner Haltung
wahrhaft prächtige Johannes (auf den ja
auch in Ihrem Fachartikel hingewiesen wird)
mufs hinsichtlich seiner Ausarbeitung weit hinter
Frau Venus nachstehen. Neue Frage: Was hat
dies alles mit Beethoven zu thun? Er war doch
auch nicht einmal ein Altertumssammler, der
diesen Sessel, an sich ein originelles Meister-
stück und eine Fundgrube virtuoser Technik,
als Kostbarkeit hütete, oder der, wie Wagner,
eines prunkhaften Milieus bedurfte, um seine
Phantasie aufzufrischen. Der schlichte Beethoven
mit seinem Junggesellenjammer, seinen ewig
wechselnden Haushälterinnen, seinen 66 Kaffee-
bohnen u. s. w.
„Hinan!“ raunt der Adler. Entschwingen
wir uns wieder dieser Einwände, tauchen wir
aus diesen Details wieder hinauf zur Anschauung
des Ganzen. Und da kann ich doch wieder nur
bekennen, dafs das Ganze der Hauptsache nach
auch vom Musikerstandpunkt aus und auch bei
mehrmaliger Betrachtung einen überwältigenden
Eindruck hinterläfst, und dafs ich das Wort einer
jungen Nihilistin vollauf zu würdigen gelernt
habe, welche gestand: „Ich, die ich an nichts
glaube, habe wieder ein Ideal gefunden, zu dem
ich beten kann.“ Dr. Otto Neitzel.


Fritz von Uhde, München
In der Sommerfrische

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