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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Schur, Ernst: Die Orestie des Aeschylos
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0484

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Die Orestie des Aeschylos.

Ein kleines Zeichen für ein künstlerisches
Heranreifen unserer Zeit ist das Erstarken des
Bewufstseins, dafs die Tagesereignisse der Kunst
eigentlich mit der Kunst nichts zu thun haben.
Dies gilt besonders für die Darbietungen der
Theater, die der Gefahr, zu verflachen und ge-
werbsmäfsiger Ausbeutung zu folgen, am meisten
ausgesetzt sind und dies Privileg denn auch
nach Kräften ausgenutzt haben und ausnutzen.
Wer ein Haus baut, das tausend und mehr
Personen fafst; wer in diesem Haus allabend-
lich spielen d. h. solche Einnahmen erzielen
will, dafs er dies kann; wer jedem, der einen
bestimmten Betrag erlegt, den Eintritt gestattet
und nicht nur den Eintritt, sondern damit selbst-
verständlich das Recht, mitzusprechen, der mufs
von wirklicher Kunst eine merkwürdige Auf-
fassung haben, wenn er meint, dafs er hier
etwas bieten kann, das fortdauernd den wirklich
schöpferischen Geist seiner Zeit widerspiegelt.
Es lassen sich allerdings Ausnahmeerscheinungen
anführen, wie z. B. das Bayreuther Festspiel-
haus ; diese stehen jedoch so weit ab, dafs auch
sie für die Weiterentwickelung nicht so sehr
in Betracht kommen. Sie sind unter so einzig-
artigen Begleiterscheinungen zustande gekommen,
und dienen so exklusiv einer Idee, dafs von
ihnen eine fruchtbare Beeinflussung schwer zu
denken ist, viel eher die Aufforderung zu
sklavischer Nachahmung. Wie ja jetzt allent-
halben die Richard Wagner-Festspielhäuser in
die Höhe schiefsen. Dies ist kein Zeichen für
die wohlthätige Verbreitung der Empfänglichkeit
für die Kunst, sondern nur ein Beweis dafür,
dafs es mit Knute und Drill endlich erreicht
wurde, dafs der Bau solcher Häuser sich eben
rentiert. Richard Wagner ist damit sehr schlecht
gedient — wenn anders nicht in ihm schon
die Keime lagen, die diese Früchte zeitigten.
Doch läfst sich dies hier ganz davon trennen.
Richard Wagners Ideen mögen gewesen sein,
welche sie wollen — hiermit haben sie nichts
zu thun. Die geschäftliche Ausbeutung einer
Idee hat mit der Idee selbst nichts gemein.
Wer also diesen Rattenkönig, der in Frage
kommt, sobald das Theater auftaucht, diesen
Rattenkönig von Ursachen und Wirkungen, Zu-
sammenhängen und Abhängigkeiten recht be-
denkt, der wird nicht verlangen, dafs es anders
sein sollte. Und wer dies eingesehen hat, den
wird es im Grunde auch nicht mehr stören.
Wenn er hier helfen, ändern will, wird er sich
nach anderer Seite umsehen, das Alte liegen
lassen, Vergangenes vergangen sein lassen. Es
ist nicht Aufgabe unserer Zeit, Morsches zu
stützen, sondern Neues aufzubauen. Was fallen
will, falle. Je eher, desto besser. Wozu
Besserungsvorschläge ? Wir brauchen sie nicht.
Was wollen wir von ihnen? Nicht mehr und

nicht weniger als nichts. Nein — nicht Stütz-
balken wollen wir ihnen liefern; keine Reden
wollen wir, keine Versöhnungen, keine Kom-
promisse. Unsere Aufgabe ist: Hütten zu bauen,
Heimstätten zu errichten, die vielleicht noch
niemand beachtet, die aber die einzige Zuflucht
sein werden für die obdachlose und ratlose
Menge, wenn der Palast einstürzt. Sehen wir
dann zu, dafs wir den Schatz besser und reiner
bewahren. Denn erst das wird zeigen, ob wir
das Recht hatten, anzuklagen.
Haben wir denn Schauspieler? In den
ersten Jahren nach der Gründung des deutschen
Theaters in Berlin schien es so. Es schien so,
als dürfte man Erwartungen hegen für die Zu-
kunft. Man hatte versuchen gelernt, ein modernes
Stück modern zu geben. Diese Schauspieler
hatten sich das Leben angesehen und hatten
eine Ahnung von einer neuen Psychologie und
deren Umsetzung ins Praktische, in Ton, Ge-
bärde und Gestalt. Sie hatten den Leuten auf
den Mund gesehen und manchmal auch ins
Herz. Es war daher bei ihnen bis zu einem
gewissen Grade eine Kunst zu beobachten, eine
feine und zurückhaltende Kunst; sie arbeiteten
und hatten eine Freude daran. Spurlos scheint
das alles vorübergegangen zu sein. Wo ist das
Weiter? Wo sind die Schauspieler, die
„sprechen“ können? Die noch einen Klang in
der Stimme haben? Denen ihre Stimme ein
Instrument ist — vielsaitig, fein und gefügig?
Die Hälfte ihrer Worte lassen sie unbeanstandet
unter den Tisch fallen — was kümmern sie
sich um die spezielle Akustik ihres Hauses!
Gleich lächerlich wirken sie überall in einem
Jambendrama wie in einem modernen Stück,
und die Menschen des Äschylus werden unter
ihren Fäusten zu aufgeblasenen Puppen. Sind
das überhaupt noch Schauspieler? Wo ist hier
der „Stil“? Naiv folgen sie nur der einen
Regel, — Gott weifs, wer sie fand und ihnen
eintrichterte —, dafs im Affekt die Gliedmafsen
streben, sich durch eine Bewegung von der
Last der Gefühle zu befreien. Und dies
deuten sie dahin aus, dafs die Gliedmafsen
eine Bewegung zu machen streben, die genau
dasselbe ausdrückt, wie der Affekt. Drängt sich
ein „Ach!“ des Schmerzes und der Trauer über
ihre Lippen, so kann man zehn gegen eins
wetten, dafs sie die Hände ein halbes Meter
über den Kopf strecken. Kein Mensch weifs —
auch sie nicht wo das begründet steht, aber
sie thun es. Thun es in Berlin, in München,
thun es überall. Jeder Mensch hat sein eigenes
Seelenleben und seine eigene Art, es auszu-
drücken, oder auch, es nicht auszudrücken. Doch
für die Schauspieler scheint es keine Individuen,
sondern nur Klassen zu geben. Vermöge und
mit Hilfe dieser vereinfachten Methode hauen

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