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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Schmidt, Wilhelm: Die dumme Grossmutter
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0198

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Die dumme Grofsmutter.

Von Wilhelm Schmidt (Bonn).

uf dem dreieckigen Marktplatz in Bonn
standen die paar alten Häuser, die noch
übrig geblieben sind, schon im Abend-
schatten, während dieDächer der hohen
neuen Bauten noch in der Sonne glänzten. Zwei
Fenster breit, drei hoch, weifs gestrichen und
mit Giebeln, die von beiden Seiten wie Treppen
aufstiegen und oben eine Kugel trugen, sahen
sie in ihrer stolzen Umgebung recht schmal und
dürftig aus — wie alte Mütterchen, die klein und
mit zusammengedrückten Ellenbogen im Gedränge
stehen.


Sie hatten sich auch nicht mit goldenen Schil-
dern und elektrischen Lampen behangen, wie die
jungen Häuser, damit sie nicht gehindert waren,
eins nach dem andern hinüber zu sehn, recht
fest und lange — und so zu warten, bis man
das nächste von ihnen mit Stangen und Beilen
zur Erde herunterreifsen würde.
Zusammen mit dem breiteren Rathaus, auf
dessen zwei Freitreppen keine dreieckigen Hüte
und Zöpfe und keine Kniehosen und zierliche
Schnallenschuhe mehr sichtbar waren und mit
der umgitterten Säule, die einem guten alten
Kurfürsten gesetzt ist und aus deren Seitenbecken
das Wasser noch wie früher plätscherte, standen
sie da und träumten auf das neuartige, dicht-
gescharte und lärmende Treiben herab — un-
beachtet, und wenn beachtet, dann verspottet
und mit wenig guten Wünschen bedacht.
In dem schmalen Haus an der Ecke wohnte
im dritten Stock, dessen zwei Zimmer aber schon

schräge Decken hatten, ein Mütterchen. Jeden
Morgen stieg es mit seiner tadellosen weifsen,
altmodischen Spitzenhaube auf dem Kopf die
drei Treppen herab. Dabei brachte es immer
die Füfse erst auf eine Stufe zusammen, ehe
es nach einer neuen Stufe hinuntertastete. Dann
ging es mit seinem kleinen irdenen Topf in der
Hand über die Strafse hinüber zum Milchwagen
und liefs sich mit auch recht altmodischer Ge-
nauigkeit sein Mafs voll schenken.
Das Mütterchen war noch nicht so alt und
hätte nach seinen Jahren erst eine Mutter zu
sein brauchen. Aber das rauh und hart ge-
wordene Leben hatte die kleine Gestalt, die für
einen freundlicheren Zeitraum geschaffen war,
vorzeitig zusammengedrückt und den Scheitel
mit frühem Schnee bedeckt, der so gut voll
blonder, verwirrter Locken gewesen war, wie
irgend ein Mädchenscheitel in den Nachbar-
häusern jetzt es war. Das Mütterchen war
sogar eine junge, lachende Frau mit roten Backen
und strahlenden blauen Augen gewesen, sodafs
sein Gesicht aussah wie ein Apfelzweig unter
leuchtenden Veilchen. Die junge Frau hatte
ihren sonnverbrannten, starkarmigen Mann ge-
habt, dem sie schon von weitem die Thür auf-
machte, wenn er von der Arbeit die Treppe
heraufkam, und hatte ihr lärmendes, zwitschern-
des Kindervolk, froh wie die Vögel, um sich
gehabt, das sich stritt und in den Schofs der
Mutter floh und ihr um Kopf und Rücken
schmeichelte.


Aber der grofse Krieg war gekommen,
der alles, was ein Gewehr und einen voll-
gepackten Tornister tragen konnte, in die
Wiesen und Felder Frankreichs führte. Und
bei Sedan ward der sonnverbrannte, stark-
armige Mann mitten durch seine breite Brust
und mitten aus seiner Jugend, seiner Arbeit
und seiner kleinen Familie, die daheim um
den Tisch und um die Lampe safs und an
ihn dachte, heraus geschossen — wie das
so manch anderem Mann und manch anderer
Frau nicht freundlicher erging. Die Pferde
stampften zweimal über ihn weg und die
Räder der Geschütze fuhren seine Brust noch
um eine Hand breiter.
Dann wurde aus der jungen, lachenden

Erich Nikutowski: Altes deutsches Städtchen.

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