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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Neitzel, Otto: Musikleben am Rhein
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0245

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Carl Gehrts: Hochzeit des Petrucchio.

Musikleben am Rhein.

Bachs Matthäuspassion, die Johannespassion,
wiederum die Matthäuspassion, dann Bachs
Hohe Messe in H-moll, wiederum die Matthäus-
passion, in Frankfurt und in Bonn Bossis
Canticum Canticorum und dann noch zehn-
bis zwanzigmal die Matthäuspassion, das war
etwa der Hauptinhalt der zwei abgelaufenen
Konzertmonate. Bossi soll uns willkommen
sein, auch wenn er nur ein begabter Nach-
empfinder der alten Meister, sowie der neuen,
insbesondere eines Berlioz, Liszt ist, und auch
wenn sein Werk gleich dem Texte, wenigstens
so wie dieser sich unbefangenen Gemütern
darstellt, zwei entgegengesetzte Stile, den welt-
lichen und den geistlichen, zu einem mitunter
recht widerhaarigen Bunde verquickt. Manchem
mögen dabei die Seelenbräute aus „Robert dem
Teufel“ einfallen, die erst grau vermummt auf-
treten und nachher ihre düstern Gewänder mit
einem Ruck von sich werfen, um als leicht
geschürzte Ballerinen dahinzuhüpfen. Aber Bossi
kann so viel, und seine Musik klingt so schön,
dafs man durch kleine Schwächen sich nicht
den Genufs des Ganzen trüben lassen soll.
Es scheint, dafs es in unserer schönsten
aller Welten ungeschriebene Gesetze giebt, gegen
welche alle Humanitätsbestrebung und alle
Wahrscheinlichkeitsberechnung eitel Spinne-
weben sind. Eins dieser Gesetze lautet: auf

.dafs jemand ein überragendes musikalisches
Genie werde, ist es durchaus notwendig, dafs
es ihm auf Erden zumeist, mindestens aber
während seiner Werdezeit jammervoll ergehe.
Was mufste, um mit den Modernen zu beginnen,
Wagner über sich ergehen lassen mehr noch
von Menschen, als vom Schicksal! Als Baireuth
schon in Sicht war, zu einer Zeit also, als
Wagners Genialität für jeden, welcher sich die
Mühe geben wollte zu sehen und zu hören,
aufser Zweifel stand, wies ein Herr Puschmann,
Psychiater seines Zeichens, in einer vielgekauften
Broschüre nach, dafs Wagner ins Tollhaus ge-
höre und an einem geistigen Defekt leide. Man
erinnert sich, in welcher Übeln Lage den Dichter-
komponisten, ohne einen Kupferpfennig in der
Tasche, bedrängt von Wiener Manichäern, 1864
der Wunsch Ludwigs II. in Stuttgart im Hotel
Marquard ereilte, schleunigst nach München zu
kommen. Der melodienreiche Böhme Smetana,
der kaum erst jetzt zu seiner verdienten An-
erkennung durchgedrungen ist, starb, den Stachel
der Mifserfolge im Herzen und des Gehörs be-
raubt. Chopin, zeitlebens ein Nervöser, starb
erbittert und verhärmt, Schumann in geistiger
Umnachtung, Weber zu früh und mit der
nagenden Ungewifsheit über das materielle Los
seiner Familie, Schubert allzufrüh, ohne, aufser
im kleinen Kreise mit Liedern, gewürdigt zu

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