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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Schur, Ernst: Die Orestie des Aeschylos
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Neitzel, Otto: Moderne Tonkunst auf dem Krefelder Musikfest
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0491

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zu geben, was über dem Tage stand; die Sehn-
sucht, einer Menschengröfse Angesicht in An-
gesicht gegenüberzustehen, alles wegzuräumen,
was an den Alltag erinnert. Ein Streben wird
da wach, das stärker ist, als die Wirklichkeit.
Dieser Idee liegt die Auffassung einer ecclesia
artis invisibilis zu Grunde, einer unsichtbaren
Kunstgemeinde, deren Sinn ist: die Ur- und
Gemeinsamkeitsgefühle der Menschheit zu wecken
und die Gegenwart in der Vergangenheit zu
heiligen. Und so fiel hierauf der Abglanz einer
Idee, deren höchster Entwickelungspunkt bis
dahin in den Baireuther Festspielen gipfelt.
Man wufste, welch grofser Idee man diente.
Es fanden drei Monate hindurch wöchentlich
zweimal, ja dreimal die Proben der Chöre statt.
Nur zu den Hauptrollen wählte man Berufs-
schauspieler — und wählte sorgfältig. Schillings,
der die Musik dazu eigens komponiert hatte, —
eine leise, doch eindringliche Begleitung, die
manchmal plötzlich zu einem wuchtigen Accent
anschwillt und die Worte wie ein Meer die
Inseln umspült, oft zart, oft verloren, dann
plötzlich aufbrausend —, dirigierte selbst. Die
Aufführung fand an den Nachmittagen statt und
dauerte von 2 bis 6 Uhr. Es waren nur drei
Aufführungen vorgesehen. So vereinigte sich
alles zu dem Aufsergewöhnlichen. Es lag eine
Feierlichkeit um dies Ereignis, eine Feierlich-
keit, die nicht gemacht wirkte, sondern von
selbst kam. Vielen, die bis dahin Aeschylos
nur dem Namen nach kannten, war er plötzlich
nahe gerückt. Sie lebten in seiner Welt; in
einem Taumel der Begeisterung machten sie
die fremde Sache zu ihrer eigenen.

All dies fehlte natürlich bei der Abenda^f-
führung des Münchener Hoftheaters. Es war
eine Premiere, wie alle übrigen sonst; nur merk-
würdiger, interessanter vielleicht, aber keine
Feierlichkeit. Und die in hohlem Deklamations-
stil befangenen Schauspieler verdarben viel,
indem sie den Charakter verwischten und
einen Brei bevorzugten. So verlor auch die
erschütternde Szene des Muttermordes, — des
Mordes der Klytämnestra durch Orest —, die
in der Berliner Aufführung wahrhaft furchtbar
und grausig wirkte, viel von ihrer zerschmettern-
den Wucht und es wurde eine Theaterszene
daraus, über deren Exzentrizität man sich viel-
leicht wunderte.
Und eines ist noch wichtig und ich komme
damit auf das früher Gesagte zurück. In der
Berliner Aufführung war es gerade der Chor
der Choephoren, des zweiten Stücks, — zumeist
sogenannte Dilettanten —, der am hinreifsendsten
wirkte. In dem Gebet und dem Jubel über die
endliche, baldige Rache erreichten diese reinen,
unverdorbenen Stimmen eine so prachtvolle
Glut, dafs sie mit dem Orchester, mit den In-
strumenten an musikalischer Kraft und Nüan-
cierung beinahe wetteifern durften. Hier rauschten
die Stürme einer alles überbrausenden Kraft.
Hier leuchtete die vergangene Zeit auf und warf
ihre Strahlen auf uns: Wie jung ist sie! Hier
hub die Melodie an, die nie ruht, nie endet.
Die Worte eines Menschen, dem sich ein Welt-
bild fügte. Die Melodie des schaffenden Geistes,
der nun nicht mehr stirbt.
Ernst Schur.

Moderne Tonkunst auf dem Krefelder Musikfest.

Vom 6. bis 10. Juni tagte in Krefeld der All-
gemeine deutsche Musikverein, dieser von Franz
Liszt am 7. August 1861 ins Leben gerufene
Verein, welcher die ausgesprochene Tendenz hat,
die Lebenden gegen die Toten zu verteidigen.
Namentlich der älteren Generation ist noch in
Erinnerung, in welchem Zustande der Stagnation
sich das deutsche Konzertleben um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts befand, wie nur die
altbewährten Namen in ermüdendem Einerlei
wiederkehrten, wie den Unbekannten nur der
Totenschein die Berechtigung zur öffentlichen
Vorführung gewährte. Scribe hat ein sehr lustiges
Stück geschrieben, in welchem er einen Dichter
eine Zeitlang sterben läfst, damit sich ihm endlich
Bühne und Publikum erschliefst, ein Beweis,
dafs es damals auf anderen Kunstgebieten und
in anderen Ländern nicht besser bestellt war.
Liszt selber, der kühne Schöpfer der sym-
phonischen Dichtungen, welcher die Musik ein-
gestandenermafsen an einen poetischen Vorgang,

an ein Charakterbild, an ein Gemälde anklam-
merte, hatte schwer unter jener Rückständigkeit
zu leiden; dazu kam die bekannte hämische
Kritikasterei der lieben Leute vom Fach, die auf
Grund einiger Komponistenerfolge oder einer
Theorieprofessur das Kunsturteil in ausschliefs-
liche Pacht genommen hatten, denen zufolge
der berühmte Virtuos sich sehr im Lichte stände,
auf dem Felde der schöpferischen Kunst mit so
viel Berufenen um die Palme zu ringen. Es
war also zum guten Teil Liszts persönliche
Komponistennot, die ihn zur Gründung jenes
Vereins antrieb. Aber wer ihm je näher getreten
ist, weifs auch, dafs er die Kameradschaftlichkeit
und Selbstverleugnung in Person war, und dafs
seine Vereinsgründung, zum Teil aus persön-
lichen Erwägungen entsprossen, doch der ganzen
Kunst und insbesondere der geknechteten, matt
am Boden liegenden neuen Kunst zu gute kam.
Wie haben sich die Zeiten geändert! Es ist
so weit gekommen, dafs man heute oft ausrufen

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