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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 15.1908

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Heft 1
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Rüttenauer, Benno: Herbstwanderung im Elsaß
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https://doi.org/10.11588/diglit.26458#0027
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Herbstwanderung im Elsaß.

Dennoch mögt ihr immerhin rufen: Es lebe das
Leben! Ihr habt sogar recht . . .
O, auch im Elsaß ist Leben. In einigen ver-
einzelten Häusern längs der Straße, wo man offenbar
einen Guten schenkte, ging cs höchst lebhaft her. Lustiger
Gesang ertönte. Und ebenfalls singend wandelten ganze
Reihen erwachsener Mädchen mit verschränkten Armen
zwischen den Weingärten. Sie sangen alte deutsche
Lieder. Auch diese schöne Sitte vergangener Tage findet
man bei uns, Württemberg ausgenommen, viel seltener
mehr als da drüben in dem einst, politisch wenigstens,
versranzöselten Lande. Auch aus diesem idyllischen Gebier
hat bei unS der Fortschritt (der Männergesangvereine)
Schönes zerstört. Und waS für ein Glück, daß die
Elsäfferinnen singen. Und
aus der Straße singen. Auch
die „Buben". Im Gesang
muß zum mindesten daS
deutsche Wort rein zum Aus-
druck kommen. „Aber soll
ich beten, singen" hätte
Schenkendorf sagen können.
Im deutschen Lied muß sich
die elsäffer Seele rein baden;
durch das deutsche Lied vor
allem wird das starke elsäffer
Heimatgesühl sich wieder
zum rechten Nationalgcsübl
auSwachsen. Ich mußte,
wie mir so von allen Seiten
die alten deutschen Weisen
entgegenklangen, an meinen
Freund in Paris denken,
einen Elsässer aus dem Um-
kreis der Hohkönigsburg,der
seinerzeit für Frankreich op-
tiert hat, wo er heut in
bedeutender und einfluß-
reicher Stellung zum Ver-
ständnis deutschen Geistes
und Wesens bei den Fran-
zosen nicht wenig beiträgt;
er schrieb mir:
Der deutsche Gedanke, das
deutsche Lied
Mich immer mächtig nach
Deutschland zieht.
Was ihn nicht hinzieht, hat er in andern vorauf-
gehenden Versen gesagt, die ich hier lieber nicht wieder-
geben will, obwohl sie vielleicht das Gesamtempfinden
der Elsässer in der Richtung der Politik sehr gut aus-
drücken. Aber von Politik will der Herausgeber der
Rheinlande nichts wissen, und er hat recht; nur soll
inan nicht übersehen, daß das Patriotische nicht nur
durch seine und zarte Fäden natürlich mit dem Politischen
zusammenhängt, sondern oft noch überdies durch recht
grobe Stricke damit verknotet, fast hätte ich gesagt ver-
kämet ist. , ,
*
Kaysersberg. Wer denkt nicht gleich: Geiler von
Kaysersberg? Aber wer hat auch nur eine Zeile von

.hm gelesen? Und woher kommt eine solche Art Unter-
richtetsein, eine solche Art „Bildung"? Mir scheint,
von der Schule. Übrigens gibt es eben zwei Arten
literarischer Unsterblichkeit: die des Namens und die
des Werks. Die eine ist gerade so häufig, als die
andere selten ist. Denn darunter kann man nichts
anderes verstehen, als die unmittelbare lebendige und
immer aufs neue befruchtende Fortwirkung eines Werkes
durch die Jahrhunderte. Auch eine Idee kann so wirken.
Aber den höheren Genius setzt daS fortwirkend lebendige,
daS immerfort gelesene Werk voraus. Die Philosophen
haben oft den Ruhm verächtlich gemacht als eine eitle
und betrügliche Sache. O diese Lebens- und Luft-
verekler! Der Ruhm ist allerdings kein Gut an sich,
er ist aber die Begleit-
erscheinung, wenn er nicht
überhaupt salscb ist, der
höchsten und göttlichsten Art
von fortdauernder Wirkung.
In Kaysersberg konnte
ich des Sonntags wegen
keine Photographien kaufen.
Leider, denn es gibt in
dieser alten Reichs - Klein-
stadt nicht nur unzählige
malerische Winkel, sondern
auch sonst kuriose Sachen.
Im Chorgestühl der Kirche
hat ein Holzschnitzler mit
dem Dichter des Reineke Voß
gewetteifert. Die bedenk-
lichsten Heldentaten der
Schlauheit und Bosheit —
und Geilheit umrahmen hier
die betenden Chorherren.
Johannes Jansen hat recht:
die Kirche des Mittelalters
liebte den Humor, vertrug
den Humor; sie ließ ihn
gleichsam — die Begründung
ist nicht schlecht — „Wache
halten neben dem Göttlichen,
damit der Mensch immer
seines Abstandes von dem-
selben eingedenk bleibe".
Warum hat nur aber die
heutige Kirche so gar keinen Humor mehr? Ach ja,
ihre Feinde haben es ihr zu arg gemacht. Sie
haben ihr den Humor verdorben. Und wie mit dem
Humor ist es mit der Duldung des Nackten. Den
Hassern der Kirche war ja die alte Dame nie streng
genug, nie prüde genug, nie heilig genug. Nun, sie hat
sich gründlich bekehrt und tut Buße. „Voltaire hat die
Kirche bekehrt. Das ist eine der größten Ironien (und
Humore) der Weltgeschichte."
Am meisten erinnert an ehemalige Reichsstadt-Herr-
lichkeit und alten deutschen Bürgerstolz das hohe Rat-
haus mit einem mächtigen Saal von strenger und
prunkloser Würde. In nächster Nähe aber steht in dem
Hof eines Privathauses ein alter Ziehbrunnen mir fol-
gender Inschrift aus dem Jahre LkOOXVIll:


Kopf des heiligen Hieronymus am Jsenheimer Altar zu Kolmar.

II
 
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