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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 28.1918

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Heft 3/4
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Wagner, Christian: Zehn Gedichte
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Schäfer, Wilhelm: Das Tagebuch des Propheten
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https://doi.org/10.11588/diglit.26488#0074
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Ehristian Wagner s,

Iuviel.

Iuvicl der Grüße sinds, die mir begegnen,

Der Blüten, die auf mich herniederregnen. >

Iuviel der Rufe sinds, die um mich schallen
Bei meincm Lufigang durch die Waldeshal.en.
Iuviel des Sanges ist's, den zu erwidern
Jch nicht vcrmag in meinen Frühlingsliedern.
Iuviel der Strahlen sind's, zuviel der Sonnen,

Der Wunderblumen und der Wunderbronnen,
Iuviel dcs Schönen, das ich nicht kann fassen
Und traurig nur muß wieder schwinden lassen.

*

Tausendmale.

Tausendmale wcrd ich schlafen gehen,

Wandrer ich, so müd und lebenssatt;

Tau cndmale werd ich auferstehen,

Jch Verklarter, in der seligen Stadt.

Tausendmale werde ich noch trinken,

Wandrer ich, aus des Vergessens Strom;
Tausendmale werd ich niedersinken,

Jch Verklärter, in dem seligen Dom.

Tausendmale werd ich von der Erden
Abschied nehmen durch das finstre Tor;
Tausendmale werd ich selig werden,

Jch Verklärter, in dem seligcn Chor.

*

Distelhäupter am Weg.

So wie sich Greise ergchn beim Sonnenschein abends,

so stehen

Distelhäupter am Weg. Weit glänzt ihr silbernes Haupt-

haar.

Leicht mag ihnen der Tod wohl werden, wenn nächstens

das große

Sterben bcginnt in Wa d, auf Feldflur, Heide und

Talgrund.

*

Vereinsamt.

Jch hatte einst viel Sterne
Jn meiner Nacht,

Die glanzten nah und ferne
Jn goldner Pracht.

Jch batte einst meine Sonne,

O schöner Tag,

Da noch in himmlischer Wonne
Die Welt mir lag!

Die Sonne sank in der Ferne,

Eh ichs gedacht,

Wo bleiben die Sterne, die Sterne
Jn meiner Nacht?

Ein Stern mit feurigem Schweife
Blutig und leer
Geht noch in einsamer Streife
Jrrend umher.

Siehst du die blutige Leuchte
Dort in der Fern,

Die mir die Lichter verscheuchte?

Das ist mein Stern.

as Tagebuch des Propheten.

Es wäre eine literarische Spielerei trotz aller
Bedeutung des russischcn Dichters, wcnn sich ein Ver-
lag jetzt während dieses Krieges um eine deutsche Ausgabe
der Tolstoischen Tagebücher bemühen wollte. Aber der
Mann, der „Anna Karenina" und „Krieg und Frieden"
schrieb, schrieb auch die „Kreuzersonate" und die „Macht
der Finsternis" mit ihren Fragen und Anklagen; er war
mehr als der russische Dichter, er ist der Prophet unscrer
Ieit, wie es Rousscau für das achtzehnte Jahrhundert
war. Die russische Revolution mit dem Niederschlag
seiner Jdeen hat diesen Vergleich handgreiflich gemacht;
und da die Geschichte doch unsere Lehrmeisterin sein soll,
wäre es kurzsichtig, zu sagen, der Mann von Jaßnaja
Poljana sei nur eine slawisch; Angelegenheit. Er ist dies
gewiß so wenig, wie Rousseau eine französische An-
gelegenheit war, obwohl er direkt nur auf die Um-
wälzung in Frankreich einwirkte. Alles, was damals im
geistigen Deutschland geschah, hatte ein Salzkorn seines
Evangeliums in sich, Goethe vielleicht am meisten,
und wo es die stärkste deutsche Antwort erhielt, in Fichte,
zeigte das Maß der Antwort auch die Slärke der Frage.
Nicht um die Bürgerfreiheit in Frankreich ging es
Rousseau, sondern um die Erneuerung der Menschheit
überhaupt. Für"diese Erneuerung fand er ein Heil-
mittel: die Natur, und einen Todfeind: die Iivilisalion
mit all den Verfeinerungen ihrer Kultur. Jn beidem sind
sich der Genfer Uhrmacherssohn und der russische Graf
so ähnlich, daß man ohne weiteres ein gemeinsames
Prinzip annehmen muß; und dieses Prinzip wird am
deutlichsten durch den auffallendsten Unterschied der
beiden, durch Tolstois Stellung zum Christentum.

Wenn sich Tolstoi einen Christen nennt, so meint er
damit nicht einen demütigen Diener der Kirche; ja, man
darf sagen, daß die Kirche seit langcm ieinen gefähr-
licheren Gegner gefunden habe als ihn, nicht im Miß-
brauch ihrer Macht durch schlechte Priester, sondern in
der Grundlage ihres Daseins. Wenn Tolstoi eine Schnft
liest, die das Dasein des Messias als Mythus erklärt,
steht er keinen Augenblick an, das für möglich zu halten,
weil er die göttliche Offenbarung in der Lehre Christi,
nicht in seiner persönlichen Eristenz sieht. Damit fällt
für ihn das, was den christlichen Kirchen als Grundlage
gilt: der Glaube an das Wunder der Gottwerdung im
Menschen, soweit dabei nur an Christus als das Opfer-
lamm Gottes gedacht ist, das sich schlachten ließ, um da-
mit alle zu entsühnen, die an das Wunder eben dieser
Tat glauben. „Man sieht, wie die Leute ein Heiligenbild
küssen, wie sie davor auf den Knieen rutschen, wie sie es
anbeten und fürchten. Wenn man die Menschen soweit
bringen konnte, dann gibt es keinen Betrug, deni sie
nicht erliegen." Schärfer kann man den Iorn gegen jeg-
lichen Wunderglauben nicht ausdrücken, und tatsachlich
ist für Tolstoi der Glaube an ein Wunder schon eine
Gotleslästerung. Der aber so die Gnadenmittel der
Kirche leugnet, ist gleichzeitig der stärkste Christ als Gottes-
gläubiger seiner Lehre und in der unbeirrbaren Kon-
sequenz seiner Verkündigung ein neuer Evangelifk:
Nur der Geist macht lebendig, der Geist aber ist Gott,
also können wir nur leben in Gott, alles andere, was wir
für Leben halten, ist Sinnentrug.
 
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