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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn: Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern — Wien, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.1272#0214
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V.
DIE GRUNDZÜGE DES SPÄTRÖMISCHEN KUNSTWOLLENS.

AS spätrömische Kunstwollen steht darin noch auf gemeinsamem Boden mit dem
Kunstwollen des gesammten vorangegangenen Alterthums, dass es nach wie vor auf
reines Erfassen der individuellen Einzelform in ihrer unmittelbar evidenten stoff-
lichen Erscheinung gerichtet war, während die neuere Kunst weniger auf scharfe Trennung der
Einzelerscheinungen, als auf ihre Verbindung zu Collectiv-Erscheinungen oder vollends auf die
Demonstration der Unselbstständigkeit der scheinbaren Individuen bedacht ist. Das wesentliche
Kunstmittel, dessen sicH die spätrömische Kunst, wiederum in Übereinstimmung mit der gesammten
Antike, zur Erfüllung des genannten Kunstzweckes bedient hat, ist der Rhythmus gewesen.
Mittels des Rhythmus, das heißt der reihenweisen Wiederholung gleicher Erscheinungen, wurde
die Zusammengehörigkeit der jeweiligen Theile zu einem individuellen Einheitsganzen unmittelbar
überzeugend dem Beschauer klar gemacht; und wo mehrere Individuen zusammentraten, dort war
es abermals der Rhythmus, der daraus eine höhere Einheit zu gestalten vermochte. Der Rhythmus
ist aber, sofern er dem Beschauer unmittelbar evident erscheinen soll, nothwendig an die Ebene
gebunden. Es gibt einen Rhythmus aus Elementen nebeneinander und übereinander, aber nicht
hintereinander; in letzterem Falle würden die Einzel-Formen und -Theile einander decken und
sich damit der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung des Beschauers entziehen. Infolgedessen
ist eine Kunst, welche Einheiten in rhythmischer Composition vorführen will, gezwungen, in
der Ebene zu componieren und den Tiefraum zu vermeiden. Wie die gesammte antike Kunst, hat *
also auch die spätrömische die Darstellung individueller Einheitsformen mittels einer rhythmischen
Composition in der Ebene angestrebt.

Das spätrömische Kunstwollen unterscheidet sich hingegen von demjenigen der früheren
Kunstperioden des Alterthums — und zwar desto schärfer, je weiter sie auseinander liegen, desto
geringer, je näher sie aneinanderrücken — darin, dass es sich nicht mehr damit begnügt hat, die
Einzelform in ihrer zweidimensionalen Ausdehnung zu schauen, sondern dieselbe in ihrer drei-
dimensionalen vollräumigen Abgeschlossenheit vorgeführt sehen wollte. Damit war zwingender-
maßen eine Loslösung der Einzelform aus der universalen Sehebene (Grund) und eine Isolierung
derselben gegenüber dieser Grundebene und gegenüber anderen Einzelformen verbunden. Aber
hiebei wurde nicht allein die Einzelform frei, sondern auch die einzelnen Grundintervalle
dazwischen, die früher in der gemeinsamen Grundebene (Sehebene) gebunden gewesen waren;
die vollständige Isolierung der Einzelform hatte somit zugleich eine Emancipation der Inter-

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