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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn (1): Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn — Wien: Österreich. Staatsdruckerei, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.75259#0143
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MALEREI.

T33

Gefolge von fünf Leibwächtern in drei Reihen hintereinander zu einer compacten (ebenen) Masse
zusammengepresst, so dass zwischen sämmtlichen Figuren fast kein Plätzchen ersichtlich frei
bleibt; Schwebehaltung der Füße, wobei die (bereits an stadtrömisch-altchristlichen Sarkophagen
vorgeschrittenen Stiles zu beobachtende) charakteristische Erscheinung, dass die vorderen Figuren
den hinteren auf die Füße treten, mehrfach wiederkehrt: der deutlichste Beweis dafür, dass es sich
dem Künstler um vollständige räumliche Isolierung der Einzelfiguren auf Kosten der Verbindung
in der Ebene (in diesem Falle der Verbindung der Fußfläche mit der benachbarten Bodenfläche)
gehandelt hat; linear gezeichnete Falten (entsprechend den gravierten an Sculpturwerken), aber
mit beginnender Neigung zur Plissierung (worauf namentlich die Doppellinien schließen lassen).
In letzterem Umstande, sowie in den schlanken überhöhten, gestelzten Leibesproportionen (unter
gleichzeitiger Verkleinerung des Kopfes) liegt hauptsächlich die Verwandtschaft mit dem späteren
byzantinischen Stil, die man in der Regel als das hervorstechendste stilistische Merkmal dieser
Mosaiken zu bezeichnen pflegt.1
Wie angesichts solcher Werke wie die Mosaiken von San Vitale von „Verfall" gesprochen
werden kann, ist unerfindlich, denn jede Linie zeugt von klarer Überlegung und positivem Wollen.
Um die schlagend porträthafte Wirkung der Köpfe in ihrer künstlerischen Bedeutung voll zu
würdigen, muss man bedenken, dass dieselbe, abgesehen von den Umrissen, ganz wesentlich bloß
durch die Charakteristik des Blickes (nebst einigen linearen Schatten) herbeigeführt erscheint,
hingegen jede Modellierung der Muskelflächen in Halbschatten, worauf das Künstlerische in der
vormarcaurelischen Porträtkunst beruht hatte, hier in Wegfall gekommen ist. Wenn uns diese
justinianischen Porträts trotzdem nicht vollauf befriedigen, so liegt dies lediglich an dem Mangel
an Raumeinheit im Bilde: jede Figur (und jeder Theil derselben) ist für sich allein optisch auf-
gefasst, ohne Rücksicht auf die Nebenfiguren, die mit jener im gleichen Raumausschnitte stehen,
weshalb wir die Figuren einzeln von dem Bilde ablesen müssen, wenn wir sie recht genießen
wollen. Die spätrömische (und byzantinische) Kunst hat nun freilich nach der modernen Raum-
einheit gar nicht begehrt; ihr aber darum das Streben nach natürlicher Lebenswahrheit schlank-
weg abzusprechen, wäre ungerecht und unhistorisch, und die Porträtköpfe von San Vitale müssen
uns eindringlich davor warnen. Diese Wahrheit wurde vielmehr von der spätrömischen Kunst
ebensogut angestrebt als von der klassisch-antiken und von der modernen; wenn aber die
classische Antike (und ihre Fortsetzungen bis in die frühere römische Kaiserzeit) die taktische
Wahrheit der Einzelobjecte in der Nahsicht bis Normalsicht ohne Rücksicht auf den Raum
gesucht hatte, wenn anderseits die neuere Kunst sei es die taktische, sei es (seit dem sieb-
zehnten Jahrhundert) die optische Wahrheit der Dinge im Raume zum Ziele hat, ist die Kunst
der römischen Kaiserzeit auf die optische Wahrheit der Dinge, ohne Rücksicht auf den Raum,
ausgegangen. Was an den Werken der spätrömischen Kunst für unsere moderne Auffassung
störend wirkt, das liegt nach dem eben Gesagten offenbar darin, dass wir uns eine Einzelform
ohne Rücksicht auf den Raum wohl taktisch in der Nahsicht (daher unsere Achtung vor der
classischen Kunst), nicht aber in der optischen Fernsicht vorzustellen vermögen: so sehr wurzeln
wir in der grundsätzlichen Anschauung, dass die Einzelformen mit ihrer räumlichen Umgebung als
materielle Erscheinung in Eins zusammengehören, während der antike Mensch gar nicht anders
konnte, als die Einzelformen in ihrer isolierten Erscheinung für sich zu fassen.

1 Die Verwendung oströmischer Künstler hätte in Ravenna, der Pforte Italiens nach dem Osten, in dieser Zeit nichts Auffallendes;
über das grundsätzliche Verhältnis zwischen ost- und weströmischer Kunst vor dem Bildersturme vergleiche das auf S. 33 f. Gesagte.
 
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