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Ritter, William; Segantini, Giovanni [Ill.]
Segantini — Künstler-Monographien, Band 72: Bielefeld [u.a.]: Velhagen & Klasing, 1904

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https://doi.org/10.11588/diglit.61492#0056
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Nun ist er glücklich und zufrieden; verheiratet und auf dem Lande lebend, ent-
wickelt sich sein Sinn für Natur und Familie zur höchsten Blüte, und er beginnt die
erste Periode seines wirklich individuellen Schaffens.
-i- *
-i-
Wir begegnen unserm jungen Künstler nun wieder, strotzend von Lebenslust und
überfließend von zitternder Schwermut, die seine Seele beim Herannahen der Nacht
durchzieht. In der schönen freien Gottesnatur, wo er nun lebt, schlägt sein Herz ver-
doppelt jeder kleinsten ästhetisch schönen Regung entgegen: er ist der Begeisterung voll
für seine Modelle und entschlossen, sie darzustellcn, Ivie er sie sieht und wie er selbst
schreibt „ganz anders als Millet — glücklich, schön und zufrieden, kein Mitleid er-
weckend, sondern eher Neid, wenn man sie und ihr Leben kennen lernt, wie ich es getan".
Wir dürfen nicht vergessen, daß Segantinis Lage immer noch eine unsichere und er
auf den Verkauf angewiesen ist, und wir ihm deshalb für einige Zeit noch sein Verweilen
beim Anckdotengenre nachsehen müssen. Der „Kuß am Brunnen" (Abb. 6) ist sicherlich
das erste sich zum Verkauf eignende Motiv, die erste Pikante Episode, welche jeder junge
Maler oder Poet beobachten wird, wenn er sich in einem Dorfe niederläßt, denn hier
ist die Stunde des Wassertragens ein wenig Schäferstündchen zugleich. Abends vom
Felde heimgekehrt, lauern die Burschen, je nach der Macht ihrer Gefühle mit mehr oder
weniger gut gespieltem Gleichmut, den Mädchen auf, die das Ziel ihrer Wünsche sind.
Teils bieten sie ihnen galant ihre Hilfe an beim Pumpen und Schöpfen, teils necken
sie dieselben mit Bespritzen und Kneifen. Den Augenblick aber, wo die Mädchen unter
der Last der vollen Eimer wehrlos gehen, benützen sie alle ausnahmslos um einen Kuß
zu erobern. In Italien mehr als sonst irgendwo trägt alles den Stempel des Leiden-
schaftlichen ohne eine Spur von Schalkheit, und wo der Franzose Galanterie meint, ver-
steht der Italiener Üppigkeit. Segantinis „Schüferkuß" dagegen trägt in der Auffassung
einen gewissen biblischen Charakter. Mit der alten, angestammten Würde stützt der
Bursche sich auf seinen Hirtcnstab, eine Bewegung, die unsterblich schon durch die Über-
lieferung ist. In der Art wie er ohne Hast, gleich einem Gebieter, der keinen Wider-
stand kennt, der wehrlosen jungen Magd den Weg vertritt, liegt fast etwas Königliches;
beider Silhouette zeichnet sich, Ivie vergrößert durch den Glanz der untergehenden Sonne,
am Horizont ab, und ihre verlängerten Schatten verschmelzen sich mit denen der umher-
schweifenden Herde. Unglücklich wirkt nur die Absichtlichkeit, mit welcher das in Holz-
schuhen stehende Mädchen, unbekümmert um ihren Liebhaber, sich dem Beschauer zuwendet.
Ein großes Schaf mit einem traurigblöden Ausdruck benützt die Verlegenheit der Hirtin,
um aus dem Eimer zu trinken, den diese eben vollgeschöpft, und wirkt unruhig in der
Komposition; vermutlich entstand dieser Tierkopf aus dem wicderentfernten Rückteil eines
andern Schafes, wie auch alle teils unproportioniert, teils ungenau gezeichnet und wenig
charakteristisch erscheinen. Der Vorgang ist Wohl tiefempfunden, aber im Detail mangel-
haft aus Unerfahrenheit, obwohl das matte Leuchten des kupfernen Eimers und der
bernsteinähnliche Ton des ganzen Bildchens sehr reizvoll sind. Das Paar ist groß ge-
dacht, hat aber durch die Ausführung gelitten. Seines eigenen Liebesbedürfnisses be-
wußt, versteht der Künstler das Gefühl des Mannes besser als das des Weibes, in dem
er die Mutter noch nicht kennt; sein Pächtermüdchen hat er noch aus seiner Kenntnis
der Mailänder Schönen herauskonstruicrt. Ein Mädchen muß nach seinen Begriffen
noch allen gefallen und das Publikum reizen, ihm zulächeln mit weißen Zähnen und
süßen Blicken. Rechts deutet er das Brunnenbecken und den Arm der Pumpe an; über-
raschend ist im Hintergrund das echt italienische Dorf mit nackten rechtwinkligen Mauern
und ohne Spur von Baum und Strauch, denn es erinnert geradezu an Poussin, und
nicht an Millet, wie andere behaupten wollen.
Dasselbe Thema wiederholt der Künstler später in Kohle und Pastell, vergrößert und
verfeinert zugleich (Abb. 7). Ein Pastell, betitelt „Morgendämmerung" (Lrimi albori)
(Abb. 8) zeigt eine ganz ähnliche Komposition, indem es eine lombardische Rebekka darstellt,
welche ihrem Liebsten den Wasscrcimer bietet. In eine Alpenlandschaft mit Sennhütten
 
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