Von Charles Marellc.
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unterscheidet, daß sie niemals wie diese die Wahrheit socialen
oder politischen Rücksichten zum Opser bringt. Fügen wir hin-
zu, daß dies nicht immer vom wissenschaftlichen Geist abhängt,
viel mehr aber von den sociaten und politischen Umständen, die
so sehr verschieden sind.
Jn katholischen Staaten brachte die Wahrheit ihre Bekenner in
frühern Zeiten auf die Folter und führt sie jetzt noch in die Ver-
bannung oder ins Gefängniß; in monarchischen Ländern schickie
sie wehrlose Gelehrte früher in die Bastille und läßt sie heutigeu-
tags noch ihre Stellen verlieren. Bis zum Tode Ludwig's XV. war
es in Frankreich unmöglich, über den Ursprung der französischen
Monarchie nach wahren Thatsachen zu reden. Man betrachtete
es als ein Mangel an Achtung, beinahe als Majestätsbeleidi-
gung, Sagen und Märchen zu kritisiren, die der Dynastie
ober dem Adel schmeichelten. Freret wurde ins Gefüngniß ge-
setzt, weil er sich unterstand, diesen Punkt zu sehr beleuchtet zu
haben. Es ist bekannt, wis Bossuet und die Sorbonne Richard
Simvn mit seiner kritischen Geschichts des Alten Testaments be-
handelten; wie seither Lie Kirche in Frankreich es jedem Theo-
logen von Fach unmöglich gemacht hat, eine ernste und
erklärende Arbeit zu liefern. 1718 sah sich die Academie-
Francaise unter dem Druck einer Hosintrigue gezwungen, den
Abt von St.-Pierre aus ihrer Mitte auszuscheiden, weil er
es gewagt hatte, die Regierung des verstorbenen Königs Lud-
wig XIV. zu kritisiren. Einerseits war es nun die Regierung,
die den Akademien streng untersagte, irgendetwas zu berühren,
was im geringsten auf die Politik oder die Verwaltung Bezug
hatte, und andererseits bewachte die Kirche aufs strengste jede
historische und philosophische Kritik. Bis zum Ende des 18.Jahr-
hunderts mußten die Aufnahmereden der AcaLemie-Francaise
im vvraus der Censur zweier Theologen der Sorbonne unter-
worfen werden!
Als einst in der Acadcmie des Jnscriptions et belles Lettres
Levesqus de Pouilly, der Vorgänger Vico's, Beaufort's und
Niebuhr's, sich erlaubte, die Geschichte der ersten vier Jahr-
hunderte Roms in Zweifel zu setzen, erhob sich ein Mitglied
der Kirche, der Abt Sallier, und rief wüthend aus: ein
Skepticismus wie Lieser sei gefährlich und müßte nothwendiger-
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unterscheidet, daß sie niemals wie diese die Wahrheit socialen
oder politischen Rücksichten zum Opser bringt. Fügen wir hin-
zu, daß dies nicht immer vom wissenschaftlichen Geist abhängt,
viel mehr aber von den sociaten und politischen Umständen, die
so sehr verschieden sind.
Jn katholischen Staaten brachte die Wahrheit ihre Bekenner in
frühern Zeiten auf die Folter und führt sie jetzt noch in die Ver-
bannung oder ins Gefängniß; in monarchischen Ländern schickie
sie wehrlose Gelehrte früher in die Bastille und läßt sie heutigeu-
tags noch ihre Stellen verlieren. Bis zum Tode Ludwig's XV. war
es in Frankreich unmöglich, über den Ursprung der französischen
Monarchie nach wahren Thatsachen zu reden. Man betrachtete
es als ein Mangel an Achtung, beinahe als Majestätsbeleidi-
gung, Sagen und Märchen zu kritisiren, die der Dynastie
ober dem Adel schmeichelten. Freret wurde ins Gefüngniß ge-
setzt, weil er sich unterstand, diesen Punkt zu sehr beleuchtet zu
haben. Es ist bekannt, wis Bossuet und die Sorbonne Richard
Simvn mit seiner kritischen Geschichts des Alten Testaments be-
handelten; wie seither Lie Kirche in Frankreich es jedem Theo-
logen von Fach unmöglich gemacht hat, eine ernste und
erklärende Arbeit zu liefern. 1718 sah sich die Academie-
Francaise unter dem Druck einer Hosintrigue gezwungen, den
Abt von St.-Pierre aus ihrer Mitte auszuscheiden, weil er
es gewagt hatte, die Regierung des verstorbenen Königs Lud-
wig XIV. zu kritisiren. Einerseits war es nun die Regierung,
die den Akademien streng untersagte, irgendetwas zu berühren,
was im geringsten auf die Politik oder die Verwaltung Bezug
hatte, und andererseits bewachte die Kirche aufs strengste jede
historische und philosophische Kritik. Bis zum Ende des 18.Jahr-
hunderts mußten die Aufnahmereden der AcaLemie-Francaise
im vvraus der Censur zweier Theologen der Sorbonne unter-
worfen werden!
Als einst in der Acadcmie des Jnscriptions et belles Lettres
Levesqus de Pouilly, der Vorgänger Vico's, Beaufort's und
Niebuhr's, sich erlaubte, die Geschichte der ersten vier Jahr-
hunderte Roms in Zweifel zu setzen, erhob sich ein Mitglied
der Kirche, der Abt Sallier, und rief wüthend aus: ein
Skepticismus wie Lieser sei gefährlich und müßte nothwendiger-