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Rodenberg, Julius
Paris bei Sonnenschein und Lampenlicht: ein Skizzenbuch zur Weltausstellung — Leipzig, 1867 (2. Aufl.)

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https://doi.org/10.11588/diglit.1385#0148
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140 V. Das Paris der Armcn und Elenden.

Männer, die so reich begabt, so witzig und in manchen
Fällen auch so gelehrt sind, ihre Anwartschaft auf den Ruhm,
ja nur auf die Achtung des Menschen im Trunk und Laster
begraben und sie selbst noch eine Weile am Rande dieses
Grabes taumeln zu sehen, die Schatten dessen, was sie ge-
wesen. Nur einige Frauenzimmer pflegen ihnen treu zu bleiben.
Jch kenne Bohemiens, die kaum dreimal wöchentlich Mittag
essen, und zwar, wenn sie einen Freund treffen, der sie ein-
ladet, oder eine ehemalige Geliebte, die mit ihnen alte Er-
innerungen feiert. Jndem sie nur vom Borgen leben, aus der
Hand in den Mund, von Credit, niemals ihre Schulden be-
zahlen, und immer unterwegs sind, um einen Laertes zu suchen,
der die Lehren des Polonius vergeffen hat: verlieren sie zuletzt
ganz das moralische Gefühl, sodaß man sie, ohne Ueber-
treibung, den Abenteurern und Betrügern gleichstellen kann.

Kürzlich arretirte die Polizei unter einer Menge von Tauge-
nichtsen, die man in den Steinbrüchen fand, einen, der, etwas
geistreicher als die andern, ein Literat zu sein erklärte. Als
man ihn nach seiner Wohnung fragte oder wohin er geführt
zu werden wünsche, antwortete er, wie Regulus: „Führt mich
nach den Steinvrüchen zurück!"

Man wird sich nun überzeugt haben, dah die „Boheme
de Paris" ein wirkliches, kein eingebildetes Land sei, nur in
den Romanen zu finden und eigens für die Romanschriftsteller
gemacht; ein Land vielmehr, welches geographisch begrenzt
wie eine Provinz mitten in der großen Welt von Paris liegt
und von einem Wanderstamme bewohnt, der unaufhörlich auf-
und niedersteigt, der sich aus allen andern Theilen von Paris
rekrutirt und in allen andern Theilen die Tradition seiner An-
gehörigen trägt. Wo wären die Spuren Ler Boheme nicht zu
entdecken in Paris? Herr Rochefort hat uns neulich in seinem
Buche „Im granäo Lolrsino" gesagt, daß ihre Fußpfade, zu-
weilen nur von sehr feinen Füßen getreten, in der That über-
all hinlausen. Aber ihr Centralherd, ihre Wiege, ihre Heimat
ist hier, in der Gegend, die wir beschrieben. Hier sind ihre
wahren Versammlungsstätten, ihre Speisehäuser für acht Sous
und ihre Trinkhäuser für sechs Sous. Hier werden ihnen
Hekatomben von Ochsen, Kälbern und Schafcn täglich geschlachtet
 
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