Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die Kunst der Anverwandlung

225

Kontemplation des Sterbens der Gottesmutter hingeben. Keiner der Apostel
kümmert sich im eigentlichen Sinne um die Sterbende, die dadurch in ihrer
Todesnot umso allein gelassener wirkt: Bis auf das Anzünden der Sterbekerze
ist alle Handlung zum Stillstand gekommen, dafür aber die bedrückend-
hoffnungslose Stimmung des Sterbezimmers um so eindrücklicher einge-
fangen.

Die für Hugo van der Goes' spätdatierten Werke so kennzeichnende Flä-
chenbindung und Raumlosigkeit des Brügger Marientodes war bis zu einem
gewissen Grade bereits bei Schongauers Kupferstich vorgegeben, dessen Ge-
staltung so offensichtlich von »horror vacui«-Gefühlen des Künsters geprägt
wurde. Insbesondere durch die diagonale Lagerung der Gottesmutter, durch
die perspektivisch »falsche« Darstellung des Bettes wie durch das Fortlassen
des Baldachins und der Vorhänge reduzierte Hugo gegenüber Schongauer zu-
sätzlich die Anhaltspunkte, die es dem Betrachter ermöglichen könnten, sich
den Bildraum zu erschließen. Die gleiche Wirkung hat auch die Lichterschei-
nung, die Christus und die ihn begleitenden Engel umfängt - dies allerdings
ein Motiv, das bei Schongauer nicht vorkommt. Doch auch mit der Darstel-
lung Christi, der sich anschickt, die Seele seiner Mutter gen Himmel zu tragen,
greift Hugo prinzipiell auf die Bildtradition zurück53.

Wie ließe sich also zusammenfassend das Verhältnis des Hugo van der Goes
zur Bildtradition charakterisieren? Wir haben die unterschiedlichsten Formen
der Aneignung und Verarbeitung fremder Kompositionen und fremden For-
mengutes beobachten können, was aber angesichts der Bedingungen des künst-
lerischen Schaffens in den Niederlanden der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun-
derts nicht überraschen wird. Die Auseinandersetzung mit, aber auch die un-
mittelbare Übernahme von bereits vorliegenden Bildformulierungen anderer
Künstler, seien es solche aus den Niederlanden oder auch aus den benachbar-
ten Gebieten, war selbstverständliche Praxis für die in der überwältigenden
Mehrheit von Handwerkermentalität geprägten Künstler. Die Vorstellung,

D- Mit der Lichterscheinung des von Engeln umgebenen Christus griff van der Goes offenbar direkt
auf eine Formulierung eines Marientodes zurück, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Rogier
van der Weyden zurückgeht (s. o. S. 207-210).

Dieses Motiv erscheint ein weiteres Mal bei einer Marientod-Darstellung der Goes-Nachfolge in
der National Gallery in London (ENP IV, S. 73, Nr. 25c, Tafel 38), allerdings verbunden mit einer
der Bildtradition folgenden bildparallelen Aufstellung des Sterbebettes. Wie die Darstellungen des
Marientodes im Stile Hugos in Prag und Berlin (ENP IV, S. 73, Nr. 25a, 25b, Tafel 38) setzt auch
die Londoner Tafel den Brügger Marientod voraus. Angesichts der pasticcioartigen Verbindung von
Bildelementen der Brügger Tafel (vor allem hinsichtlich der Typenbildung) mit solchen der tradi-
tionellen Ikonographie des Themas ist auch die Möglichkeit des Rückgriffs auf eine frühere, im
Original verlorene Formulierung dieses Themas durch Hugo selbst auszuscheiden. Die drei Tafeln
in Prag, Berlin und London sind daher nicht nur im Hinblick auf ihre Ausführung, sondern auch
hinsichtlich der Bildformulierung als Arbeiten von Nachfolgern van der Goes' zu betrachten.
 
Annotationen