102
Theils IN Buch.
XVI @ap}tel.
Etliche
Mahlerey
Regeln.
liche Natuͤrlichkeit / Kraͤfte des Liechts und Schat-
tens / dermaßen hoch und angenehm in allen Thei-
len / beſonderlich in den Bildern / daß dergleichen /
weder mit dem Grabſtichel / noch durch Actzen / im
Kupfer zu erhalten iſt.
Zum Beſchluß / folgen hier etliche zur Mahle-
rey gehoͤrige Canones oder Regeln / die ich mir /
bey meinen Studien / ſelber vorgeſchrieben / und
denſelben gefolget: deren ſich alle / ſo von dieſer
Edlen Kunſt Profeſſion machen / mit nutzen bedie-
nen koͤnnen.
ı. In der Practik von der Edlen Mahlerey-
Kunſt / muß man / alle deren Regeln und Geſetze /
2. Die Vollkommenheit eines Werkes hierin-
nen / wird / nicht durch das ausſprechen hochtraben-
der Worte / oder Red Zierlichkeit ohne Erfah-
rung / ſondern durch rechte Wiſſenſchaſt und deren
vollziehung / erlanget.
3. Die bekannte und beruͤhmte alt bewaͤhrte
neu herfuͤrkommenden leichten Manieren / in alle
Wege vorzuziehen.
4. Ein Kuͤnſtler / der etwas großes und loͤbli-
ches auszubilden begehret / muß ſich vor allen Din-
gen befleiſſen / daß er deſſen / was er eigentlich re-
will / eine vollkommene Wiſſenſchaft
habe.
5. Das Amt eines guten / geſchickten und er-
fahrnen Mahlers iſt / daß er / in allen Theilen ſeiner
Werke / ſich vollverſtaͤndig zeige / oder wenigſt
darinn ſo nahe herbey komme / daß vom baͤſten zum
ſchlechtſten ein kleiner Unterſchied erſcheine.
6. Wer der Ubung dieſer Studien nicht beyge-
wohnt / oder den Mahlern zugeſehen / noch auch den
jenigen / ſo da von lehren und reden / fleißig und oft-
mals zugehoͤret / ſondern allein darum für einen ge-
geleſen hat / der iſt nicht allein ſehr univeis / ſondern
er betrieget mur ſich ſelber.
7. Ob man ſchon in einer Sache / den rechten
Grund zu erfinden / ſich lang verweilet / ſoll man
darum ohne Fundament nicht verfahren / ſondern
Spruch:
Dem Unverdroſſnen iſt kein Ding
zu ſchwer / der Sleiß macht alles ring.
8. Gleichivie die Art des Landes / auch die Zeit /
in welcher die Hiſtorien geſchehen / die man zu re-
præſentiren gewillt / unterſchiedlich iſt / alſo erfor-
dert die Notdurft / daß ſelbiger Zeit und Landes
Yatur und Beſchaffenheit in den Bildern und An-
geſichtern gebrauchet / auch die Kleidung / die Land-
ſchaften und Thiere / dabey ſie zu erkennen / be-
obachtet werden.
9. Man ſoll ſich an keine Manier / Gewonheit
oder angenommenen Gebrauch binden / ſondern wie
die Natur immer alles veraͤndert und anderſt gebie-
ret / alſo ſollen wir immerzu in allem uns veraͤndern
und von dem guten zum baͤſſern wenden.
10 Der Einraht oder das Exempel der Vortreff-
lichſten / worinn ſie æſtimirt ſind / ſoll nicht aus
der acht geſchlagen werden: man habe dann / durch
gruͤndiiches Examen, es noch baͤſſer gefunden.
4 Die gute Werkweiſter ſterben nimmer-
mehr / im Gedaͤchtnis der Vernuͤnftigen; und die
den / ſind viel waͤrhaftiger / als der Unerſahrnen
ihre: daher die ſchoͤne Seelen / weil heutigs Tags
die Tugenden und Kuͤnſte ſich nicht erhalten ohne
viel Arbeit und Unkoſten / deren keines ſparen / um
jener Schaar der Ruhmſeeligen nach dem Tode zu:
geſellt und zugezehlt zu werden.
12. Wir erkennen / daß das Geſicht eine von
den allergeſchwindeſten Wirkungen der ganzen
Welt iſt / als welches augenblicklich unendliche Ge-
ſtalten durchgehet und uͤberſchauet. Nichts deſto
ticular erkennen oder diſtinguiren. Ein Beyſpiel
deſſen / iſt dieſe ganz mit Druck Buchſtaben von der
Preſſe uͤberſchriebene Blatſeite: da man unver-
züglich erſtes anblicks urtheilet / daß viel darauf ge-
ſchrieben ſey; was es aber fuͤr Woͤrter ſeyen / und
was ſie ſagen und bedeuten / das kan niemand im er-
ſten anblick ſagen / ſondern er muß erſtlich die Zei-
len von Wort zu Wort durchgehen / und ihren Inn-
baͤu oder Thurn beſteigen will / ſo iſt natuͤrlich / daß
man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf
gleichen Schlag / wann der angehende Mahler / de-
me die Natur eine Faͤhigkeit zu ſolcher Weltberuͤhm-
ten himmliſchen Kunſt eingefloͤſſet / eine gruͤndliche
Wiſſenſchaft unterſchiedlicher Formen und Geſtal-
ten ʒu uͤberkommen verlanget / ſo iſt noͤtig / daß er!
dem zweyten ſchreite / ehe und bevor er das erſtewol
in die Gedaͤchtniß gedrucket / und einem Habito|
habe. Dann wann es anderſt geſchiehet / ſo wird
Kunſt maͤchtig verzoͤgert und prolongiret. Hat
alſo der Lehrjuͤnger mehr auf den Fleiß / als auf die
13. Eines zierlichen Bildes Hand / ſoll nicht
hoͤher als der Kopf / der Ellenbogen nicht hoͤher als
die Achſel / und der Fuß nicht hoͤher als bis zum
Knie / erhoben ſeyn. Der Fuß foll auch nicht weiter /
als einen Fuß weit / ſchreiten.
14. Es ſoll eines jeden Bildes Seele und Be:
ren. Dann es ziemet ſich nicht / daß die zum Pflug
gebrauchte Schieb Ochſen in der zierlichen Geſtalt
ſtehen / wie des großen Alexandri Pferd Buce-
phalus. Dieſes kan aber wol geſchehen mit der be-
he verwandelt worden / und mag man ſie mahlen-
wie ſie mit aufgerichtem Haupt und fluͤchtigen Fuͤſ⸗
15. In beobachtung der noͤtigen Proportion
des Leibs und der Gliedmaßen des Menſchen / auch
der Thiere / iſt das Hauptſtuck / daß die Gliedmaben
wol auf einander correſpondiren / und nicht un-
gleich / auch nach erforderung des Lexüs , zuſtehen
kommen.
16, Die allgemeine Maß an den Bildern / miß
der Laͤnge nach / und nicht nach der Dicke / beobach-
tet werden.
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Theils IN Buch.
XVI @ap}tel.
Etliche
Mahlerey
Regeln.
liche Natuͤrlichkeit / Kraͤfte des Liechts und Schat-
tens / dermaßen hoch und angenehm in allen Thei-
len / beſonderlich in den Bildern / daß dergleichen /
weder mit dem Grabſtichel / noch durch Actzen / im
Kupfer zu erhalten iſt.
Zum Beſchluß / folgen hier etliche zur Mahle-
rey gehoͤrige Canones oder Regeln / die ich mir /
bey meinen Studien / ſelber vorgeſchrieben / und
denſelben gefolget: deren ſich alle / ſo von dieſer
Edlen Kunſt Profeſſion machen / mit nutzen bedie-
nen koͤnnen.
ı. In der Practik von der Edlen Mahlerey-
Kunſt / muß man / alle deren Regeln und Geſetze /
2. Die Vollkommenheit eines Werkes hierin-
nen / wird / nicht durch das ausſprechen hochtraben-
der Worte / oder Red Zierlichkeit ohne Erfah-
rung / ſondern durch rechte Wiſſenſchaſt und deren
vollziehung / erlanget.
3. Die bekannte und beruͤhmte alt bewaͤhrte
neu herfuͤrkommenden leichten Manieren / in alle
Wege vorzuziehen.
4. Ein Kuͤnſtler / der etwas großes und loͤbli-
ches auszubilden begehret / muß ſich vor allen Din-
gen befleiſſen / daß er deſſen / was er eigentlich re-
will / eine vollkommene Wiſſenſchaft
habe.
5. Das Amt eines guten / geſchickten und er-
fahrnen Mahlers iſt / daß er / in allen Theilen ſeiner
Werke / ſich vollverſtaͤndig zeige / oder wenigſt
darinn ſo nahe herbey komme / daß vom baͤſten zum
ſchlechtſten ein kleiner Unterſchied erſcheine.
6. Wer der Ubung dieſer Studien nicht beyge-
wohnt / oder den Mahlern zugeſehen / noch auch den
jenigen / ſo da von lehren und reden / fleißig und oft-
mals zugehoͤret / ſondern allein darum für einen ge-
geleſen hat / der iſt nicht allein ſehr univeis / ſondern
er betrieget mur ſich ſelber.
7. Ob man ſchon in einer Sache / den rechten
Grund zu erfinden / ſich lang verweilet / ſoll man
darum ohne Fundament nicht verfahren / ſondern
Spruch:
Dem Unverdroſſnen iſt kein Ding
zu ſchwer / der Sleiß macht alles ring.
8. Gleichivie die Art des Landes / auch die Zeit /
in welcher die Hiſtorien geſchehen / die man zu re-
præſentiren gewillt / unterſchiedlich iſt / alſo erfor-
dert die Notdurft / daß ſelbiger Zeit und Landes
Yatur und Beſchaffenheit in den Bildern und An-
geſichtern gebrauchet / auch die Kleidung / die Land-
ſchaften und Thiere / dabey ſie zu erkennen / be-
obachtet werden.
9. Man ſoll ſich an keine Manier / Gewonheit
oder angenommenen Gebrauch binden / ſondern wie
die Natur immer alles veraͤndert und anderſt gebie-
ret / alſo ſollen wir immerzu in allem uns veraͤndern
und von dem guten zum baͤſſern wenden.
10 Der Einraht oder das Exempel der Vortreff-
lichſten / worinn ſie æſtimirt ſind / ſoll nicht aus
der acht geſchlagen werden: man habe dann / durch
gruͤndiiches Examen, es noch baͤſſer gefunden.
4 Die gute Werkweiſter ſterben nimmer-
mehr / im Gedaͤchtnis der Vernuͤnftigen; und die
den / ſind viel waͤrhaftiger / als der Unerſahrnen
ihre: daher die ſchoͤne Seelen / weil heutigs Tags
die Tugenden und Kuͤnſte ſich nicht erhalten ohne
viel Arbeit und Unkoſten / deren keines ſparen / um
jener Schaar der Ruhmſeeligen nach dem Tode zu:
geſellt und zugezehlt zu werden.
12. Wir erkennen / daß das Geſicht eine von
den allergeſchwindeſten Wirkungen der ganzen
Welt iſt / als welches augenblicklich unendliche Ge-
ſtalten durchgehet und uͤberſchauet. Nichts deſto
ticular erkennen oder diſtinguiren. Ein Beyſpiel
deſſen / iſt dieſe ganz mit Druck Buchſtaben von der
Preſſe uͤberſchriebene Blatſeite: da man unver-
züglich erſtes anblicks urtheilet / daß viel darauf ge-
ſchrieben ſey; was es aber fuͤr Woͤrter ſeyen / und
was ſie ſagen und bedeuten / das kan niemand im er-
ſten anblick ſagen / ſondern er muß erſtlich die Zei-
len von Wort zu Wort durchgehen / und ihren Inn-
baͤu oder Thurn beſteigen will / ſo iſt natuͤrlich / daß
man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf
gleichen Schlag / wann der angehende Mahler / de-
me die Natur eine Faͤhigkeit zu ſolcher Weltberuͤhm-
ten himmliſchen Kunſt eingefloͤſſet / eine gruͤndliche
Wiſſenſchaft unterſchiedlicher Formen und Geſtal-
ten ʒu uͤberkommen verlanget / ſo iſt noͤtig / daß er!
dem zweyten ſchreite / ehe und bevor er das erſtewol
in die Gedaͤchtniß gedrucket / und einem Habito|
habe. Dann wann es anderſt geſchiehet / ſo wird
Kunſt maͤchtig verzoͤgert und prolongiret. Hat
alſo der Lehrjuͤnger mehr auf den Fleiß / als auf die
13. Eines zierlichen Bildes Hand / ſoll nicht
hoͤher als der Kopf / der Ellenbogen nicht hoͤher als
die Achſel / und der Fuß nicht hoͤher als bis zum
Knie / erhoben ſeyn. Der Fuß foll auch nicht weiter /
als einen Fuß weit / ſchreiten.
14. Es ſoll eines jeden Bildes Seele und Be:
ren. Dann es ziemet ſich nicht / daß die zum Pflug
gebrauchte Schieb Ochſen in der zierlichen Geſtalt
ſtehen / wie des großen Alexandri Pferd Buce-
phalus. Dieſes kan aber wol geſchehen mit der be-
he verwandelt worden / und mag man ſie mahlen-
wie ſie mit aufgerichtem Haupt und fluͤchtigen Fuͤſ⸗
15. In beobachtung der noͤtigen Proportion
des Leibs und der Gliedmaßen des Menſchen / auch
der Thiere / iſt das Hauptſtuck / daß die Gliedmaben
wol auf einander correſpondiren / und nicht un-
gleich / auch nach erforderung des Lexüs , zuſtehen
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16, Die allgemeine Maß an den Bildern / miß
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