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unmöglich darnach fragen, wie der und jener, Cajus oder
Sempronius, mit einem von ihm gefällten Urtheile zufrieden
sehn wird. Da muß man auch die harte Wahrheit, wie man
sie fühlt und sieht, ohne Bemäntelung und Schonung heraus-
5 sagen, oder man thäte besser lieber gar zu schweigen. Halb-
heit und Zweideutigkeit gilt hier durchaus nicht, es ist eine
der ersten Maximen der Beurtheilung: was Anspruch macht,
sich als Kunstwerk darzustellen muß vortrefflich sehn, oder es
taugt ganz und gar nichts. Niemand soll sich für einen
10 Kunstrichter halten, d. h. er soll wissen daß er nicht der
Stimmführer der gesamten Menschheit sehn kann, er soll sein
Urtheil als ein individuelles geben, aber dock nach reiflicher
Erwägung entschieden und bestimmt, und ohne sich in der
Selbstständigkeit desselben irre machen zu lassen, wenn er auch
i5 alle feine Zeitgenossen gegen sich hätte; denn es gilt von
diesen noch die Appellation an ein vergangnes oder künftiges
Zeitalter, oder an den unsichtbaren Genius des Menschen-
geschlechts (11^ überhaupt, der in der ganzen Geschichte, vor-
nämlich aber in den' Umgestaltungen der Wissenschaft und
20 Kunst leitend waltet. Alle von ihm herrührenden, d. h. ächt
genialischen Werke haben eine stille siegende Gewalt in sich;
sie werden, wenn auch noch so lange vergessen, mißverstanden
und verworfen, zuverläßig in neuer Herrlichkeit wieder empor-
kommen, so wie hingegen, was einen falschen Ruhm usurpirt
25 hat unvermeidlick zu seiner Zeit in der verdienten Dunkelheit
untergehen muß.
Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der Deutsche»
Literatur.
Es wird viel Rühmens gemacht (wiewohl nicht ohne
30 untermischte Klagen über die unerlaubten Neuerungen, über
das einreißende Verderbniß der zügellosen Jugend) von der
schönen Blüthe, dem gesegneten Wachsthum und der frucht-
baren Fülle unsrer Literatur. Die Ausländer, gegen die wir
uns noch unlängst in einem ganz passtven Verhältnisse des
35 Bewunderns, Übersetzens, Nachahmens und Nachbetens befanden,
fangen an mit Achtung von ihr zu sprechen, unsere Sprache
unmöglich darnach fragen, wie der und jener, Cajus oder
Sempronius, mit einem von ihm gefällten Urtheile zufrieden
sehn wird. Da muß man auch die harte Wahrheit, wie man
sie fühlt und sieht, ohne Bemäntelung und Schonung heraus-
5 sagen, oder man thäte besser lieber gar zu schweigen. Halb-
heit und Zweideutigkeit gilt hier durchaus nicht, es ist eine
der ersten Maximen der Beurtheilung: was Anspruch macht,
sich als Kunstwerk darzustellen muß vortrefflich sehn, oder es
taugt ganz und gar nichts. Niemand soll sich für einen
10 Kunstrichter halten, d. h. er soll wissen daß er nicht der
Stimmführer der gesamten Menschheit sehn kann, er soll sein
Urtheil als ein individuelles geben, aber dock nach reiflicher
Erwägung entschieden und bestimmt, und ohne sich in der
Selbstständigkeit desselben irre machen zu lassen, wenn er auch
i5 alle feine Zeitgenossen gegen sich hätte; denn es gilt von
diesen noch die Appellation an ein vergangnes oder künftiges
Zeitalter, oder an den unsichtbaren Genius des Menschen-
geschlechts (11^ überhaupt, der in der ganzen Geschichte, vor-
nämlich aber in den' Umgestaltungen der Wissenschaft und
20 Kunst leitend waltet. Alle von ihm herrührenden, d. h. ächt
genialischen Werke haben eine stille siegende Gewalt in sich;
sie werden, wenn auch noch so lange vergessen, mißverstanden
und verworfen, zuverläßig in neuer Herrlichkeit wieder empor-
kommen, so wie hingegen, was einen falschen Ruhm usurpirt
25 hat unvermeidlick zu seiner Zeit in der verdienten Dunkelheit
untergehen muß.
Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der Deutsche»
Literatur.
Es wird viel Rühmens gemacht (wiewohl nicht ohne
30 untermischte Klagen über die unerlaubten Neuerungen, über
das einreißende Verderbniß der zügellosen Jugend) von der
schönen Blüthe, dem gesegneten Wachsthum und der frucht-
baren Fülle unsrer Literatur. Die Ausländer, gegen die wir
uns noch unlängst in einem ganz passtven Verhältnisse des
35 Bewunderns, Übersetzens, Nachahmens und Nachbetens befanden,
fangen an mit Achtung von ihr zu sprechen, unsere Sprache