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Schneidmüller, Bernd
Nomen Patriae: die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10. - 13. Jahrhundert) — Sigmaringen, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.41165#0054
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Geschichte der Gallier, sondern verschafft auch der französischen Monarchie des späten
10. Jahrhunderts historische Legitimation, die ihre Wurzeln nicht in einer kleineren Region,
sondern in einem real erfahrbaren umfassenderen geographischen Gebilde findet.
Die Umdeutung der fränkischen in eine gallische Tradition scheint zudem in der Lage zu
sein, die Rückschläge der fränkischen Geschichte des 9. und 10. Jahrhunderts zu kaschieren,
während das ostfränkisch-deutsche Imperium, zu Richers Zeit noch eine der wesentlichen
Größen in der französischen Politik, an die politische Peripherie gedrängt wird69). Die
Geschichtsschreibung des Reimser Mönches beruht auf neuen Wurzeln und deutet bereits auf
ein modernes Frankreichbewußtsein mit seinen natürlichen Grenzen hin. Dieser neue Raum,
nicht mehr durch Hypotheken fränkischer Geschichte belastet, besaß um 1000 zudem den
Vorteil, in einem einheitlichen Lehnsverband unter dem französischen König zu stehen.
Zum Entwurf seiner politischen Konzeption hatte Richer manche Verfälschungen unter-
nommen. Die historische Kritik an einer solchen Berichterstattung, die vor allem von einer rein
auf das Faktische gerichteten Geschichtswissenschaft vorgetragen wurde, wurde mit stark
moralisierenden Kategorien vorgenommen ^ und erschöpfte sich vielfach in der Frage, ob
Richer es nicht besser gewußt habe. Ein solches Vorgehen ließ freilich die Suche nach den
Motiven zurücktreten, da nicht das Interesse des Chronisten, sondern die Objektivität seiner
Berichterstattung Maßstab historischer Beurteilung wurde. Wir haben zu zeigen versucht, wie
stark eine solche Wertung verkürzen mußte und wie wenig Gerechtigkeit der historiographi-
schen Eigenart Richers widerfuhr, der unserer Meinung nach keineswegs als verschrobener
Einzelgänger Geschichte verfälschte, sondern nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist. Da
Richers Chronik in Frankreich kaum benutzt oder abgeschrieben wurde, haben wir uns zur
Erhärtung unserer These der Frage nach der Repräsentanz der geäußerten Ideen wie der
benutzten politisch-geographischen Terminologie zu stellen, zumal da für die verfälschenden
Kombinationen keine Parallelen zu erbringen sind.
Diesem Problem wollen wir uns auf zwei methodisch unterschiedlichen Wegen nähern, die
uns auch die Betrachtung der politisch-geographischen Terminologie der Zeit um 1000
ermöglichen sollen. In einem ersten Durchgang muß zunächst festgestellt werden, ob die
häufige Verwendung des Gallia-Begriffs in anderen zeitgenössischen Zeugnissen ebenfalls
belegt ist, um Parallelen für den Sprachgebrauch Richers herbeizubringen. Neben dieser rein
begriffsgeschichtlichen Fragestellung soll uns zudem ein Vergleich der historiographischen
Konzeption Richers mit zeitgleichen Traditionsquellen beschäftigen, um Aufschlüsse über die
politische Bedeutung von Geschichtsschreibung in der frühen Kapetingerzeit zu erhalten.

69) Die entsprechenden Belege bei Bernd Schneidmüller, Sonderbewußtsein, S. 83, Anm. 203-207.
70) So noch bei Walther Kienast, Deutschland, S. 489f. und passim. Ein kurzes Referat der Bewertung
Richers in der Forschung gibt Wolfgang Giese, Genus, S. 10 ff.

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