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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0016
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seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten bezwecken, also gerade
das Umgekehrte von dem, was die jetzigen Real- und In-
dustrieschulen sind.1 Hierin müssten die Vorschulen aller Klassen
der Gesellschaft übereinstimmen, möchten sie sonst, wie es nothwendig
sein dürfte, in Umfang und Art des humanistischen Unterrichts noch so
verschieden sein. Dieser besteht nicht ausschliesslich in den alten Spra-
chen und der klassischen Literatur, sondern charakterisirt sich allein
durch seine Tendenz.
Also zuerst humanistische Vorschulen; sodann zweitens Werk-
stätten, auf denen das Können gelehrt wird; endlich drittens vollste
Gelegenheit den durch das Schaffen angeregt en W is s en s-
trieb des Lehrlings ohne Zwang zu befriedigen; Gelegenheit
wie sie z. B. in Paris durch öffentliche Vorträge, gehalten von den
ersten Männern aller Wissenschaften, allen Fachleuten ohne Ausnahme,
und besonders noch den Eleven der verschiedenen Künstlerateliers in
der ecole des beaux arts, geboten ist.
Dieser freiesten Unterrichtsmethode verdankt Frank-
reich grösseren Ruhm und grösseren Wohlstand als jenen
gefeierten Fachschulen, die den Schulmännern anderer
Nationen so nachahmenswerthe Muster scheinen, während
man in Frankreich über ihre Reorganisation nachzudenken anfängt; näm-
lich den Ruhm und den Vortheil des unbestrittenen Vorrangs in den
meisten Fächern der Kunstindustrie, und einer bildenden Kunst die kei-
ner ausländischen nachsteht; während ihm in Beziehung auf Chemie,
Geniewesen und Mechanik, wenigstens von England und Amerika, wo
keine polytechnische Schulen sind, die Palme streitig gemacht
wird. —
Doch mögen Fächer wie die letztgenannten, bei denen sehr um-
fassendes und gründliches exaktes Wissen gefordert wird, immerhin be-
sondere Einrichtungen nothwendig machen, es soll nur behauptet sein
dass diejenige Organisation des Unterrichts, die für sie zweckmässig er-
scheinen mag, desshalb nicht massgebend sein darf für alle Zweige und
Fächer der Technik, und am wenigsten für die Künste, mit Inbegriff der
Baukunst und der Kunstindustrie.
Diess bestätigen die angeführten Gegensätze im französischen Unter-
richtswesen, das bei der neuen Schultrennung in Deutschland und in
anderen Ländern nur einseitige Berücksichtigung und Nachahmung ge-
funden hat. Zwar hat man in diesen Ländern neben den sogenannten
1 In Bayern besteht eine Verordnung, die der kunstsinnige König Ludwig
erliess, von der ich aber nicht weiss ob sie befolgt wird, wonach kein In-
genieur oder Architekt zum Staatsdienst zugelassen wird der nicht das Gym-
nasialexamen gemacht hat.
 
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