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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0023
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XVII

pagandisfischen Zwecke bedienend) den ausgearteten Jesuitenstil erfand,
gegen den sie jetzt zu Felde zieht. Sie ist in Frankreich in dieser
Wirksamkeit am thätigsten, wohl wegen des Geschmackseinflusses, den
Paris von jeher über andre Länder übte; wobei aber die Unsicherheit
und Beweglichkeit dieses Pariser Stützpunktes bedenklich scheint. Die
Eiferer in jener tendentiösen Künstlerpartei behandeln das nordwestliche
und nördliche Europa gradezu wie ein dem Christenthum neu zu er-
oberndes Heidenland und bringen dieselben Mittel der Bekehrung in
Vorschlag, wodurch bereits schon einmal über Frankreich dasselbe Ziel
erreicht wurde, (vde Reichensperger’s Fingerzeige.)
Das Absichtsvolle und Studirte was dieser Richtung anhaftet, das
Princip der Unfreiheit das in dem von Priestern und Archäologen ent-
worfenen Programm derselben mit klaren und bestimmten Worten
ausgesprochen ist, sind die sichersten Bürgschaften für die Ansichten
derer die ihr die Zukunft absprechen, mögen ihre Leistungen an sich
auch wohlverstanden und ihre Pläne gut berechnet sein.
Aus umgekehrten Gründen bleibt immer noch der sogenannten klas-
sischen Schule ein stets neues Wirken in Aussicht, denn die Archäolo-
gie kann noch so scharf sichten und scharfsinnig spüren, es bleibt im-
mer doch zuletzt dem divinatorischen Künstlersinn alleinig vorbehalten
aus den verstümmelten Ueberresten der Antike ein Ganzes zu rekonstrui-
ren. Hier bleibt daher die archäologische Kritik hinter jenem im ent-
schiedensten Nachtheil und verliert sie ihre Initiative; dieser Nothwen-
digkeit des Erfindens aus Mangel an hinreichenden Anhaltspunkten für
servile Restitution, diesem unkritischen Verfahren, ist es zum Theile zu-
zuschreiben dass alle Wiedergeburten der antiken Kunst sofort Neues,
und niemals so ganz Schlechtes wie jene neugothischen Gebäude aus dem
Anfänge dieses Jahrhunderts, zuWege brachten. Sogar die zierliche kleine
Renaissance der Zeit Ludwigs des 16. und die neueste hellenistische, de-
ren Koryphäe Schinkel ist, waren sofort schöpferisch; das Entstandene
ist bleibendes ruhmvolles Eigenthum der Zeiten, denen es angehört. Die
antiken Ueberlieferungen werden aber auch aus ganz andren, viel tiefer
liegenden Gründen ihre neu belebende Kraft stets für uns behalten und
alles Seltsame und Specifische überdauern, was die bunte Zeit aus ihnen
hervorrief. 1 Was die Kunstgeschichte betrifft, so wird sie erst dann
1 Die Gefahr für die Erhaltung jener Baukunst der Wiedergeburt die, zugleich
mit der Malerei und der Bildnerei des Cinquecento, und in gleichem Grade, un-
übertroffen dasteht, ohne, wie das Gothische, in sich fertig zu sein, keine Seite zu
weiterer Entwicklung zu bieten, liegt in der Thatsache dass sie nur durch wahr-
haft künstlerische Hand ausführbar ist, aber durch Pfuscherei, die heutzutage
verlangt wird, sofort in trivialste Formengemeinheit ausartet. Dagegen be-
kennt der sogenannte gothische Stil ein Prinzip der Uniformirung im Keich-
III
 
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