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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0025
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XIX

in die Idee, in dem Zergliedern desselben und dem Herauspräpariren des
Begriffskerns aus ihm. 1
Also auch von dieser Seite sieht sich die Kunst isolirt und auf ein
ihr besonders abgestecktes Feld verwiesen. — Das Gegentheil von vor-
mals, — denn bei den Alten war auch dieses Gebiet in demselben Reiche
gelegen woselbst die Philosophie waltete, die selbst Künstlerin war und
den andern Künsten als Führerin diente, aber mit diesen ergreisend zur
Scheidekunst ward, und an Stelle lebensvoller Analogieen todte Kate-
gorieen erfand.
Eben so war der gothische Bau die lapidarische Uebertragung der
scholastischen Philosophie des 12. und 13. Jahrhunderts.
Item mit kunstanatomischen Studien ist den Künsten nicht gedient,
deren Gedeihen davon abhängt dass beim Volke das Vermögen des ungetheil-
ten unmittelbaren Kunstempfindens und die Freude daran wieder erwache.
1 ,,Die spekulative Aesthetik, die vorzugsweise gepflegt wird, ist für die
„Bildenden und Bauenden fast eben so unfruchtbar wie für die Beschauenden
„schädlich. Es fehlt dieser Aesthetik an konkretem Verständniss des Schö-
„nen, sie hat zwar viel Kunstrhetorik aber wenig Kunstempfindung verbreitet.
„Eine Ableitung des Formellschönen gelingt ihr nicht; sie muss sich in der
„Regel damit begnügen, aus der vollen Traube nur den abstrakten Schnaps des
„Gedankens abzudestilliren.
„Seit die Kunst unter diese spekulative Aufsicht gestellt worden ist, ist
„weder der Sinn für schöne Raumerfüllung neubelebt noch sind die Nerven
„für die vis superba formae empfänglicher gestimmt worden. Das unmittel-
bare anschauende Denken wird durch diese Aesthetik in keiner Weise geför-
dert. An der Unfähigkeit so vieler Menschen das Schöne als solches rein
„zu geniessen findet sie eine grosse Stütze. Sie hilft dieser Unfähigkeit
,nach, indem sie das für das Auge bestimmte für das Ohr übersetzt, die
„Kunst in Nichtkunst, die Formen in Begriffe, das Vergnügen am Schönen in
„Gott weiss welches Vergnügen, und Scherz und Humor der Kunst in pedan-
tischen Ernst umwandelt. — Wenn aber Form, Farbe, Quantität, um sie
„recht zu empfinden, erst in der Kategorieenretorte sublimirt werden müssen,
„wenn das Sinnliche als solches keinen Sinn mehr hat, wenn das Leibliche,
„wie in dieser Aesthetik, sich erst entleiben muss, um seinen Reichthum auf-
„zuschliessen, — geht da nicht für die Kunst der Grund selbstständiger Exi-
stenz zu Grunde?
„Auch über die Kunstjournale, die mehr oder weniger das Echo der speku-
lativ-ästhetischen Handbücher sind , wäre Manches zu bemerken. Auch sie
„leisten dem stofflichen Interesse mehr Vorschub als gebührlich. Das Was
„dominirt auch in ihnen das Wie, das Meinen das Erscheinen. —
„So erinnert die spekulative Aesthetik in manchen Beziehungen an die
„Naturphilosophie. Wie diese die exakte Forschung wird jene die empirische
„Aesthetik zur Nachfolgerin haben.“
Worte eines Dichters und Kunstkenners.
 
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