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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0052
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Erstes Hauptstück.

gangen und Verzweigungen diejenige Aufmerksamkeit widmet,
die ihnen ohne Zweifel gebührt.
Es wäre kaum nöthig geschienen, diess voranzustellen, hätte
sich nicht ein gewisses Misstrauen gegen Untersuchungen über
den Ursprung der architectonischen Grundformen und Symbole
verbreitet, hervorgerufen durch in der That oft fruchtlose Grübe-
leien auf diesem Gebiete, die nicht selten zu schädlichen Irrthü-
mern und falschen Theorieen geführt haben. Es darf hier nur an
den seit Vitruv hundertfältig wiederholten Versuch erinnert wer-
den, den dorischen Tempel in allen seinen Theilen und Gliedern
aus der Holzhütte herzuleiten und zu entwickeln, oder an den
Irrthum, den selbst ein Gau theilen konnte, dass der ägyptische
Tempelbau dem Troglodytenthume seinen Ursprung verdanke,
welches dahin geführt hat, dass man über die Culturgeschichte
Aegyptens ganz falsche Theorieen fasste und die Civilisation des
Nilthales von den Quellen dieses Flusses aus herabsteigen liess,
da sich doch der umgekehrte Gang, den sie nahm, aus allen ge-
schichtlichen und monumentalen Urkunden und aus der Natur
der Sache ergiebt. Der Grottenbau sollte auch in Indien den
Grundtypus der Baukunst bilden (was wo möglich noch aben-
theuerlicher klingt), so wie das Zelt der Mongolen dem geschweif-
ten Dache der Chinesen zum Urbilde dienen musste.
Diese Versuche gingen aus einer richtigen Schätzung der
Wichtigkeit hervor, die sich an die Frage über die Urverwandt-
schaften der Kunstformen knüpft, allein man verfuhr dabei, wie
wenn einer die verschiedenen Sprachen auf das Lallen der Kin-
der, auf die unarticulirten Naturstimmen der animalischen Welt,
oder auf das Pescheräh der wildesten Stämme zurückführen wollte,
was, glaube ich, auch schon versucht worden ist.
Die vergleichende Sprachforschung hat bewiesen, dass diejenige
Sprache, auf welche sich alle oder die meisten todten und leben-
den Idiome der alten Welt mit Sicherheit als auf ihren unmittel-
baren oder mittelbaren Ursprung zurückführen lassen, unter allen
die wortreichste und biegsamste ist und dass die Spracharmuth,
die scheinbar aus dei’ Kindheit des Menschengeschlechtes stammt,
bei strenger Prüfung sich als Verkümmerung, Verwilderung oder
gewaltsame Verstümmelung ursprünglicherer und reicherer Sprach-
organismen kund giebt. In Fällen verräth sich sogar eine er-
künstelte Schein-Ursprünglichkeit, hervorgerufen oder doch ge-
 
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