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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0054
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4

Erstes Hauptstück.

aus nacheinander Europa überschwemmten. Alle trugen die Re-
miniscenzen früherer kultivirterer Zustände mit hinüber. Am
wenigsten verwischt zeigen sie sich bei jenen indo-germanischen
Stämmen, welche den Süden Europas zuerst bevölkerten, den
Japygiern, Etruskern und Gräkoitalern. Im Norden und Westen
stehen die Finnen an der Grenze der Geschichte. Sie gehörten
einer in sich sehr harmonisch entwickelten Kulturform an, ob-
schon diese über die Erfindung der Erzwaffen und Erzgeräthe
hinausreicht. Vielleicht auch hatten sie den Gebrauch des Erzes
wieder vergessen, wie dieses von den Neuseeländern behauptet
wird, deren Geschicklickeit im Holzschnitzen und dem Asiatischen
verwandtes Kunstgebahren allerdings die Möglichkeit zulässig
macht, dass sie auf der metalllosen neuen Heimath den Gebrauch
des Metalles nothgedrungen aufgaben. Das reiche Idiom der
Finnen und die noch jetzt lebenden Ueberreste einer sehr aus-
gebildeten Dichtkunst bei ihnen geben Beweise dafür, dass ihr
Zustand ein verwilderter sein konnte, aber gewiss kein ursprüng-
lich wilder war.
Ihnen folgten die Kelten, die sie an die äussersten Marken
Europas drängten, wo sie aus dem ackerbauenden Zustande in
den des Jäger- und Fischerlebens zurückverfielen. Die Kelten
kannten den Gebrauch des Erzes und wussten dasselbe zu ge-
winnen. Auch sie waren die friedlosen Ausstösslinge eines socia-
len Körpers, dessen ursprüngliche gesellschaftliche Formen auf
der Wanderung sich nur bruchstücksweise erhielten. Ihnen folg-
ten die eisenkundigen Germanen und machten sie dienstbar. Auch
diese germanischen Horden, ohne nationalen Zusammenhang, doch
durch gemeinsame Sprache verbunden, waren von der Gesellschaft
ausgestossene Heimathlose und wahrscheinlich durch langes Um-
herziehen mehr als ihre Vorgänger verwildert. 1 Finnen, Kelten,
Germanen, Skandinavier, Slaven, alle haben Reminiscenzen frü-
herer Bildung und diesen entsprechende Traditionen der Baukunst
mit sich in den Westen hinüber getragen, die bei der Neugestal-
tung der Gesellschaft nach dem Verfalle des Römerthumes als
thätige Elemente der neuen Gesellschaftsform und der aus ihr
hervorgehenden neuen Kunst mitwirkten, ein Umstand, der, wie
1 Ein Volk von Ackerbau und Viehzucht treibenden Hinterwäldlern hat
keine Urzustände aufzuweisen, sondern wie jene nordamerikanischen Ansiedler
nur Verwilderung.
 
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