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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0219
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Textile Kunst. Stoffe. Seide.

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keine unangenehmen Töne hervorbringen. So würde z. B. feuer-
farbener Atlas als Stoff des Untergewandes nicht wohl zu einem
violetten Ueberwurfe stehen, weil die Reflexfarbe ein schmutziger
aus roth, gelb und blau gemischter Ton würde. Gemusterter und
damastartig geblümter Atlasgrund verträgt reichere und buntere
Dessins als irgend ein anderer. Er übertrifft in dieser Eigen-
schaft sogar den Goldgrund, wenn dieser nicht etwa die Textur
des Atlas erhält.
Welchen Einfluss dieser Stoff auf die Malerei und Skulptur
gehabt habe, ergibt sich aus den Werken der deutschen und nie-
derländischen Meister zu Ende des 15. und zu Anfang des 16.
Jahrhunderts , und unter diesen zeigt er sich am entschiedensten
bei Albrecht Dürer, dessen geknickter Faltenwurf so recht be-
wusstvoll von ihm aus Vorliebe für diesen Stoff gewählt wurde.
Der Vergleich dieser deutschen Auffassung des Stofflichen mit dem
was die italienischen Meister, namentlich Titian und Paul Veronese
daraus gemacht haben, ferner mit dem was unter den Händen
der holländischen Meister des 17. Jahrhundertes daraus hervor-
ging, bietet vielfachen Anlass zu Vergleichungen, nicht bloss für
Maler und Kunstforscher, sondern eben so sehr für Seidenfabrikan-
ten, Kostümiers und Damen, die bei der wichtigen Toilettenfrage
ihren angebornen Geschmack durch Stilstudium zu unterstützen
nicht für überflüssig halten.
Offenbar hat Dürer andere Zeuge vor Augen gehabt als Titian,
Paul Veronese und selbst Holbein.* Der Atlas, den diese Meister
malten, war ein anderer als derjenige, der uns in den Netschers
und Therburgs entgegenglänzt.
Die Seidendraperie und namentlich der Faltenwurf des Atlas
ist mehr geschickt für malerische denn für plastische Behandlung
und hat auf letzterem Gebiet im späteren Mittelalter in gewissem
Sinne nachtheilig gewirkt. Die Plastik musste die seidenen
Fesseln erst von sich werfen, (was schon unter den pisanischen
Meistern geschah,) um sich wieder frei zu fühlen.
Doch lässt sich nicht läugnen, dass die Seide einer gewissen
ceremoniös-feierlichen und tendenziösen Richtung der darstellenden
Künste, (die bei aller vollendeten Technik, wo immer sie sich
zeigt, der freieren Richtung gegenüber doch stets eine gebundene
bleibtj die Hand bot, und dass in diesem Sinne auch in der
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