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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0250
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200 Viertes Hauptstück.
zelnen Stoffe und Fälle der Anwendung die verkommen und
sich, täglich vermehren, das Moment der freien Behand-
lung festhalten, was aller Handstickerei in Plattstichmanier
gemeinsam eigenthümlich ist und sie fast zum Range der freien
Kunst erhebt. Kraft dieses Stilmoments ist die Handsti-
ckerei der strengen Symmetrie und dem geometrischen Muster
nicht unterthänig, ja sie soll ihren Stil kundgeben in der Nicht-
beachtung beider innerhalb gewisser Grenzen, in dem
freien malerischen Arrangement, so weit dieses mit
anderen Stilbedingungen verträglich bleibt.
Je freier die Anordnung ornamentaler Motive ist desto mehr
tritt die Nothwendigkeit einer nach gewissen höheren Gesetzen
des Geschmacks geregelten Masspnvertheilung und des Gleichge-
wichts der Formen und der Farben bei ihrem Gebrauche her-
vor, — und hierbei sind die stofflichen, räumlichen und zweck-
lichen Daten, die jedesmal der Aufgabe unterliegen, für das
W i e der Auffassung massgebend. Die Freiheit innerhalb dieser
Stilschranken ist das Geheimniss der hohem Kunst, die, zwar
noch sehr gebunden, in der Stickerei zum erstenmale ihre Flügel
wie zum Aufschwünge in Bewegung setzt. Man kann behaupten
dass die freie Kunst im Oriente nie über diesen Punkt der Ent-
faltung hinausging, dass sie sich fortwährend innerhalb der Schran-
ken des Stickereistils hielt, aber wenn dieses wahr ist so ist da-
für auch eben so richtig dass nirgend der Geist desselben als
solcher so vollständig erfasst wurde wie dort und dass desshalb
die freie Ornamentik der orientalischen namentlich der indischen
und chinesischen Stickereien, sowohl was ihre Formen als was
das dabei beobachtete Prinzip der Färbung betrifft, für uns und
unsere Kunstindustrie ein Vorbild bleibt, an dem wir unsern Ge-
schmack und unser Stilgefühl zu üben haben.
Das Rankenwerk und überhaupt die vegetabilischen Motive
die in ihrer Mannichfaltigkeit sich doch stets wiederholen ohne
zu ermüden, sind für den Zweck der freien ornamentalen Stickerei
die glücklichsten— eine unerschöpfte und unerschöpfliche Quelle
der zierlichsten und frischesten Erfindungen —• wo aber die
Kunst über dieselben hinausgeht und Figürliches, Symbolisches
oder wohl gar Tendenziöses bringt, dort soll sie sich vor allem
hüten durch symmetrische und periodische Wiederholungen gleicher
Motive, durch das unfehlbare Brechmittel monotoner Bedeutsam-
 
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