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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0307
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Textile Kunst. Indien.

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in den ältesten Nachrichten über sie, die im Ramajana und
Mahabharata enthalten sind , deren wirkliches Alter, zwar wie es
scheint eben so unbestimmt ist wie alles was sich auf die Archäo-
logie dieses geheimnissvollen Bodens bezieht, die man aber doch
unbedenklich 1 den ältesten Urkunden der menschlichen Gesell-
schaft zurechnen darf. Schon damals war die indische Kunst
durch alle stofflichen Metamorphosen hindurchgegangen und die
deutlichsten Erinnerungen an diese Durchgänge hatten sich ihr
aufgeprägt, denn weibliche Empfänglichkeit für Aneignung neuer
Motive mochte schon damals wie heute hervorragender Cha-
rakterzug bei ihr sein. Seitdem liessen vielleicht vier oder
fünf Jahrtausende ihre Eindrücke auf demselben weichen Bild-
stoffe zurück und so entwickelte sich der Stil, der uns an den
Hindumonumenten gegenwärtig vor Augen tritt, deren älteste
vorhandene Spuren übrigens nachweislich nicht viel über den
Anfang unserer Zeitrechnung hinausreichen. Nach diesem müsste
das Erwähnen der Hindubaukunst an dieser Stelle verfrüht er-
scheinen, liesse es sich nicht bis zur Evidenz nachweisen, dass
uns in ihr das raffinirte Ende einer Kunstphasis entgegendämmert,
die weit über unseren geschichtlichen Horizont hinausreicht und
vielleicht um viele Jahrtausende jenseit der ersten Anfänge und
dunklen Erinnerungen unserer jetzigen Civilisation liegt.
Schon die ältesten sanskritischen Bücher vergegenwärtigen
uns den Stil der Hindukunst als einen äusserst zusammengesetzten
und formenreichen. — Das Holz, der Backstein, die Steinquader,
das Metall und vor allem der Stuckmörtel kamen abwechselnd
und gemeinschaftlich beim Bauen in Anwendung, und jeder von
diesen Stoffen hatte durch seine technischen Sondereigenschaften
schon damals den Stil der Kunst auf das Mannigfaltigste be-
einflusst und ihm den Charakter der Ueberladenheit ertheilt,
der ihn auszeichnet. Die Begleiter Alexanders berichten von
einem sehr raffinirten Holzbaue, den sie bei den Völkern des
Pentschab vorfanden, der Ziegelbau verbunden mit der Quader-
konstruktion zeigt sich an den Ueberresten der ältesten Stupas
und während die Technik in beiden Konstruktionsweisen, (des
Holz- und Steinbaues) weit vorgeschritten war, sehen wir gleich-
zeitig den berühmten Grotten- und Monolithenbau noch gar nicht
1 Die Schlussredaktion des Mahabharata wird freilich von Weber erst
einige Jahrhunderte nach Chr. gesetzt.
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