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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0371
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Textile Kunst. Exkurs. Tapezierwesen der Alten.

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vidualisirten Gedanken steht. Sein Massstab ist nicht der Fuss
sondern der Modulus oder sonst irgend eine ihm selbst ange-
hörige Einheit. Es bedarf also zwischen dem Monumente antiker
Art und dem Menschen, der seinen Fuss hier nicht unmittelbar
anzulegen vermag, einer dritten massgebenden bekannten Einheit
um das Harmonische, Absolute, das an sich weder gross noch
klein ist, als relativ gross oder klein zu kennzeichnen. 1
Aus diesen Gründen erklärt es sich dass die Kirchenfeste und
der dabei übliche Apparatus in gothischen Kirchen stets künst-
lerisch ungenügend, oft entschieden störend, nicht selten sogar
lächerlich wirken. Ich habe deren im Mailänder Dome, in Notre-
dame de Paris, auch in der Frauenkirche zu München beige-
wohnt und von allen nur ein zerfetztes und wüstes Bild in der
Erinnerung behalten , tuchbeschlagene Bündelpfeiler, herab-
hangende lange Draperien zwischen den letzteren als wäre das
Gotteshaus ein Blaufärbertrockenboden , Balkons, Baldachine,
Scherwände im Spitzbogenstil und dergleichen Absurditäten.
Nach den Abbildungen zu schliessen mussten die Sacres in der
Kathedrale zu Rheims in dieser Beziehung alle Grenzen des Ge-
schmacklosen überschreiten. —- Das beste Auskunftsmittel bleibt
meines Erachtens, wenn man in die Lage kommt ähnliche Ein-
richtungen'zu treffen deren häufiges Misslingen von der Schwie-
rigkeit der Aufgabe den Beweis gibt, sich gar nicht spitzbögig
zu geriren, sondern den antiken Gebrauch des Bekleidens der
Monumente auch auf antike und zugleich naturgemässe Weise
du rch zu führen, das Temporäre, dem Zeitmoment Angehörige,
nicht dem Stile des Monuments, sondern dem Stile der Zeit ge-
mäss einzurichten, wobei allerdings das spezifisch Heterogene
möglichst wegzulassen, das allgemein Prinzipielle allein beizube-
halten ist. Mich dünkt die alten Bilder aus der gothischen Zeit,
Miniatüren sowie Oelbilder und Fresken, die gar häufig Dar-
stellungen drapirter Räume enthalten, müssten beweisen dass
damals gerade auf die von mir vorgeschlagene Weise verfahren
wurde, wo es sich um derartige Festapparate handelte. Bei
Wohnräumen und überhaupt in dem Civilbaue verliert der go-
thische Stil seine Sprödigkeit, ja er existirt eigentlich gar nicht
prinzipiell sondern nur in dekorativem Sinne in allem Ausser-
1 Weiteres darüber im zweiten Theile: gothischer Stil. Vergl. Violet le
Duc Dictionaire d’Architecture Fran^aise etc. (Artikel Architecture.)
Semper.
 
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