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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0447
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Textile Kunst. Phönikien und Judäa.

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hätte jemals geahnt dass zur Zeit des Kyros oder kurz nach ihm
Kleinasien eine Bildnerschule hatte die schon zu einer Zeit wie
in dem eigentlichen Hellas die Skulptur gleichsam noch in den
Windeln lag in lebendigster Dramatik des Dargestellten, in
freiester Behandlung des Nackten und der Draperie, in der Be-
meisterung des Stoffs endlich einen Standpunkt erreichte der
schon jenseits der Kunsthöhe liegt, daher weit mehr an Sko-
pas kecken Meissel als an den höheren Stil der Phidias und
Polyklete erinnert. Noch helfen sich unsere Kunsthistoriker in
Betreff ihrer aus der Verlegenheit, indem sie ihr hohes Alterthum
leugnen, die thatsächlichen Zeugen ihres frühen Wirkens in die
späten Zeiten des dritten Jahrhunderts verlegen, sie mit kurzen
Bemerkungen gleichsam als horsd’oeuvres und curiosa der Kunst-
geschichte abfertigen. Mit der Zeit aber wird sich unser auf
Plinius, Pausanias und der Philostratus armselige Notizen haupt-
sächlich begründetes System der Kunstgeschichte bequemen müs-
sen den Thatsachen gegenüber zu weichen. 1
Von den judäischen und phönikischen Alterthümern haben sich
nur äusserst wenige wirkliche Spuren erhalten, unter diesen sind
ausserdem die meisten und merkwürdigsten sehr zweifelhaften Ur-
sprungs, wie z. B. die mit den angeblich keltischen Monumenten des
europäischen Westens sehr verwandten Steinkammern im Gebiete
des alten Karthago,2 und die aus einer ähnlichen Konstruktions-
weise bestehenden rohen Tempelhöfe welche sich auf der Insel
Malta und der benachbarten Insel Gozzo erhalten haben. An ihnen
1 Unter diesen Denkmälern ist das sogenannte Harpagosmonument, wel-
ches offenbar einen Sieg der Barbaren über eine hellenische Stadt feiert, in
Rücksicht auf die Vollendung und den Stil der Skulpturen höchst wichtig, aber
nicht das bedeutendste von dem im Text Berührten. Noch meisterhafter und
lebendiger sind die Reliefs auf den beiden lykischen Grabmonumenten, die
im britischen Museum gemeinsam mit den Resten des genannten Sieges-
monumentes, dem berühmten Harpyengrabe und den verschiedenen andern
trefflichen Skulpturen aus Lykien aufgestellt sind. Unter letztem zeichnen
sich auch besonders die beiden halbkauernden Löwinnen aus, die unter den
Trümmern der Burg des alten Xanthos gefunden wurden und die sich auf den
Zinnen der von dem persischen Feldherrn bedrohten Stadt, auf einer der
Friesplatten des Siegesmonumentes klar und unzweifelhaft abgebildet, wieder-
finden. Diese Löwinnen sind demnach Werke aus viel früherer Zeit als der-
jenigen, in welcher Xanthos von den Persern eingenommen wurde.
2 Siehe Barth, Wanderungen durch die Küstenländer des Mittelmeeres 1.8.
230 ff. und Revue Archeologique 1. pag. 566.
 
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