Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0491
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Textile Kunst. Das eigentliche Griechenland. Allgem. Betrachtungen. 443
Zwei Antithesen stellten sich heraus: der Baustil des west-
lichen Asiens (der chaldäo-assyrische) und der Baustil des pharao-
nischen Aegyptens, Gegensätze die sich, wie im zweiten Theile
der Schrift gezeigt werden wird, in den allgemeinsten Entstehungs-
und Wachsthumsbedingungen der architektonischen Gebilde beider
Länder, also dem entsprechend auch in den Massenerscheinungen
die sie bieten, offenbaren, — nicht minder entschieden aber auch
in dem was hier Gegenstand der Betrachtung ist hervortreten.
Die Bekleidung ist in der späteren schon ausgebildeten chal-
däo-assyrischen Baukunst das gemeinsam konstruktive und
ornamentale Prinzip; das einzig Feste am Hause ist dessen
Kruste, und rein technische Proceduren, die mit dem Bekleiden
und Inkrustiren verbunden sind, wie das Weben, Säumen, Nähen,
Sticken, Einlassen, das Niethen, Falzen, Löthen, Schiften, Run-
zeln der Krusten, in Gemeinschaft mit einigen statischen Momen-
ten, wie diejenigen die bei dem Fusse und dem Kopfe der
Gabelsäule und besonders bei den Möbeln nach oben ausführ-
licher behandelter Weise hervortreten, generiren das architek-
tonische Kunstschema, und sogar das Ornament, das nur nebenbei
zugleich symbolisch wird oder werden darf. Die Bekleidung
tritt hier in rein technisch - realistischer Weise als formengebend
auf; es entsteht eine Hohlkörperstruktur im wahren materiellen
Sinne des Worts. —•
Der Aegypter dagegen will nicht dass die Bekleidung irgend
wie der Idee nach mit der Struktur Zusammenhänge und doch
absorbirt diese faktisch die Bekleidung; die Struktur wird mas-
siv steinern, die Bekleidung wird aus ihr herausgeschnitten, hat
aber ihr eigenes, man möchte sagen antistruktives Sein, durch
die ostensible Weise wie sie sich von der Struktur, mit der sie
doch Eins ist, dem Sinne nach lostrennt.
Dass beide Auffassungen nicht allein ihre Berechtigung, dass sie
ihren tiefen symbolischen Sinn haben, der aus dem Gegensätzlichen
zwischen den Kulturideen beider Länder hervorging und es aus-
drücken hilft, ist unzweifelhaft, jedoch hier nicht weiter zu erörtern.
Der hellenische Tempel nun ist gebaut nach ägyptischem
Prinzipe, nur in mehr durchgebildeter Weise, im vollendeten
Isodomgemäuer, und ausgestattet («uxTjTor) nach dem in höhe-
rem struktur-symbolischem Sinne aufgefassten asiatischen
Prinzipe der Inkrustation, die eben durch diese Kombination von
 
Annotationen