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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0555
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Textile Kunst. Christliches Zeitalter. Westliches Reich, 507
so bezeichnenden Quaderschmuckes der Wände. Die von der
Bekleidung abgeleiteten Ornamente, deren Ursprung und Be-
deutung die klassische Baukunst nur errathen lässt, werden ganz
materiell und naiv den textilen Künsten von Neuem abgeborgt;
das Flechtwerk, der Zopf, das Teppichmuster sind wieder, zum
Beispiel bei den Normannen des 11. Jahrhunderts, was sie bei
den Chaldäern waren , nicht so sehr symbolisch wie darstellend
imitatorisch gefasste Entlehnungen aus den textilen Künsten zu
dekorativen Zwecken. ’
Anders verhielt es sich mit der Bekleidung in ihrer Verbin-
dung mit dem Dachgerüst und den zu ihm gehörenden stützen-
den Elementen.
Diese Kombination, durch deren Vermittlung es den Hellenen
gelang die Kunstidee von aller stofflichen Beimischung zu reini-
gen, musste um so mehr verkümmern und in Nichts zusammen-
schrumpfen je mehr sich der Steinschnitt und die Maurerei an
die Stelle der alten indogermanisch-tektonischen Raumbedeckung
drängten, und sich in architektonisch-formalem Erscheinen geltend
machten. (Siehe Hauptstück Maurerei.)
Wo übrigens die Säulen bei romanischen Bauwerken noch
vorkommen, besonders in Verbindung mit Gurtbögen, die sie zu
tragen haben, z. B. an den Portalen der Kirchen, auch als Ar-
kadenträger und Stützen der Mauern des Mittelschiffes in dem
Inneren derselben, halten sie noch immer mit allen Theilen die
unmittelbar zu ihrem Systeme gehören, (nämlich dem freilich ver-
krüppelten Architrave, dem von letzterem aufgenommenen Gurt-
bogen und bis zu der quadratischen Umrahmung, welche mit
dem Gurtbogen die dreieckigen Zwickel der Arkaden umschliesst,)
treu an der antiken Bekleidungüberlieferung, sind alle die ge-
nannten Theile für das Auge nicht Maurerarbeiten, sondern
Rankengeflecht, Mattenwerk, Tapeten und gestickte Verbrämung.
Die eigentliche Revolution des Stiles beginnt erst mit der
Erfindung der Gurtbogengewölbe. Sowie die hecke durch sie
aus ihrer dynamischen Indifferenz herausgerissen und ihre Ein-
heitlichkeit als schwebendes nur vertikal gestütztes Velum in ein
1 Der unermüdliche Eifer der mittelalterlichen Propaganda in der Ver-
öffentlichung von Kupferwerken und farbigen Darstellungen alter Malereien
und sonstiger Details romanischen und gothischen Stils und in deren Ver-
breitung macht es überflüssig das Folgende mit Illustrationen zu begleiten.
 
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