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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0557
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Textile Kunst. Christliches Zeitalter. Westliches Reich. 509
ebenste emancipirt ; ausserdem lässt das römische ungebrochene,
halbkreisförmige Kreuzgewölbe mit seiner Lakunarienzierde die
Sensation des Seitwärtsschiebens kaum aufkommen, weil es durch
dieses Symbol als eine nur modificirte Felderdecke auftritt.
Die Zerlegung der Decke in dynamisch thätige Gurtbögen
und Gewölbribben zog unausbleiblich dasjenige nach sich, was
die modernen Gothen die organische Gliederung 1 und Belebung
der Wand nennen, was aber weiter nichts ist als eine Vernichtung
ihrer Existenz, eine sichtbare Kundgebung des Verlustes ihrer
Bedeutung als Wand; sie ist nunmehr in den Dienst des Gewöl-
bes übergetreten und zerlegt sich in eine Doppelreihe von Lang-
pfeilern, die ihre Fronten in einer Viertelswendung wechseln,
so dass ihre Axen senkrecht auf die Axen der nunmehr auf-
gelösten Wände gerichtet sind. Die letzte Consequenz dieses
Systemes (das allerdings in Beziehung auf Folgerichtigkeit alle
anderen hinter sich lässt) war der gänzliche Wegfall jeglicher
sichtbaren vertikalen Raumumschliessung, desjenigen Elementes
der Baukunst, auf welchem die beiden noblen Schwesterkünste
der Architektur, die Malerei und Skulptur nämlich, ihr von Alters
her und naturgemäss dargebotenes Feld zu freiem nicht unmittel-
bar von der Baukunst abhängigem Schalten hatten. Diesem
Mangel wurde, wenigstens in gewissem Sinne, durch die Malerei
des Glases abgeholfen, welches im eisernen und bleiernen Netz-
werke zwischen die weiten Oeffnungen der Pfeiler gespannt ward
und den nöthigen Schutz gegen die Witterung gewährte. Aber
1 Dieses Wort wird wie mir vorkommt in neuerer Zeit als Ausdruck für ge-
wisse Eigenschaften einer Kunstform sehr missbraucht, in vielen Fällen scheint
man gar keinen bestimmten Begriff daran zu knüpfen. Nicht jedes konsequent
durchgeführte System einer Formgebung ist desshalb ein Organismus ; dieser
bedingt das Hervortreten gewisser formaler Erscheinungen die sich als Lebens-
äusserungen kundgeben und denjenigen homogen sind, welche die lebendigen
organischen Geschöpfe, nämlich die Pflanzen und die Thiere, bei ihrer mikro-
kosmischen Thätigkeit und im Conflikte mit der Aussenwelt auszeichnet. Die
griechische Säule, in ihrem Conflikte mit der nur senkrecht wirkenden Last
über ihr ist ein Organismus; der gothische Pfeiler mit seinen Gewölbribben,
wenn auch noch so konsequent durchgeführt, und obschon mit lockerem Blatt-
schmucke an seinem Knaufe ungenügend und äusserlich als Organismus sym-
bolisirt, ist und bleibt immer nur eine Struktur. Das vergebliche Bemühen
ihn beleben zu wollen führte im 15. Jahrhunderte zu der Baumastarchitektur,
die der letzte Versuch war jener steinernen Scholastik Leben einzuflössen.
 
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