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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

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https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0198
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•£5Q Viertes Hauptstück.
rohen Thierbildungen sind, die als vereinzelte Motive die Mitten regel-
mässiger mathematischer Figuren (Polygone oder Kreise) ausfüllen oder
sich bandförmig über und nebeneinander reihen oder endlich in Gruppen
auf dem dunkleren Grunde ohne Einfassung und frei schweben. Ihr
Stoff besteht aus einem schweren und dichten Seidenzeug von einfachem
Kreuzgewebe oder auch von geköpertem starkem Levantin. Die ältesten
Stoffe dieser Art sind bloss doppelfarbig, indem die Dessins durch den
andersfarbigen Einschlag gebildet sind, die späteren dagegen fast immer
mit Goldfäden gewirkt, so dass entweder der Grund oder das Muster
golden erscheint. Die vorherrschenden Farben sind purpurroth, purpur-
violet, grün und gelb, welches letztere oft durch Gold ersetzt wird.
Diese Stoffe nun verhalten sich zu den uralten, schweren, bilder-
vollen, asiatischen Geweben und Stickereien aus Wolle wie jene vorher
bezeichneten spätrömischen Seidenzeuge sich zu den leichteren und we-
niger geschmückten Stoffen des klassischen Alterthumes verhalten: in
beiden ist die Seide noch nicht stilistisch verwerthet, man erkannte in
ihr nur erst einen Stoff, der einige Eigenschaften der früher gewohnten
Stoffe in erhöhtem Grade besitzt, ohne schon darauf gekommen zu sein,
die ihm besonders eigenthümlichen Qualitäten, vielleicht gegen Aufopfe-
rungen solcher Vortheile, die die Wolle, das Linnen oder die Baumwolle
gewährten, als Grundlage eines neuen Stils zu betrachten und darauf ein
neues Prinzip der Seiden-Kunstweberei zu begründen. Dass aus der
früheren sassanidischen Periode Anzeichen einer anderen und richtigeren
Auffassung der Eigenthümlichkeiten des Seidenstoffes in den Kostümen
der Bildwerke aus jener Zeit hervortreten, beweist nur, dass damals die
fertigen Seidenstoffe noch direkt aus China oder wahrscheinlicher aus
Ostindien bezogen wurden und als fremder Modestoff das Kleidungswesen
jener Zeit für eine Zeitlang modificirten, jedoch nach einer Richtung hin,
die derjenigen ungefähr entgegengesetzt war, die sich um das VII. und
VIII. Jahrhundert herum in denselben Ländern entwickelte, nachdem die
Seidenfabrikation Zeit gehabt hatte, sich dort heimisch zu machen.
§. 44.
Goldbrokate.
Der erste wichtigste Fortschritt auf dieser Bahn der Entwicklung
des Seidenstils (der, ich wiederhole, für die gesammte Kunst des Mittel-
alters von eben so grossem und allgemeinem Einflüsse war, wie die textile
 
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